Paris: „La Bayadère“

Ein viel zu wenig bekanntes „großes romantisches Ballett“ – das letzte und prächtigste von Rudolf Nurejew

Zum Jahresende gibt es auch an der Pariser Oper traditionell ein großes Ballet von Marius Petipa. Dieses Mal gab es anstatt der Kassenschlager „Dornröschen“ (1890), „Nussknacker“ (1892) oder „Schwanensee“ (1895) 23 Vorstellungen der viel weniger bekannten „Bayadère“ (1877). Das „große romantische Ballet“ von Petipa ist genau so prächtig wie „Schwanensee“, wird jedoch viel weniger gespielt und wenn, dann leider meist nur in zerstückelter Form. Eine Bajadere ist eine indische Tempeltänzerin – so wie man sich diese in Europa vorstellte. Goethes Gedicht „Der Gott und die Bajadere“ inspirierte Scribe und Auber zu dem Ballett „Le Dieu et la Bajadère“ (1830), das Filippo Taglioni für seine berühmte Tochter Marie Taglioni choreographierte. Paris war begeistert, und die Mode des „indischen Orientalismus“ florierte. Balzac berichtete mit Schmunzeln, dass man auf den Boulevards den Kaffe nun sitzend auf Kissen zu trinken habe: im Café „La Bayadère“. „Mit dem wirklichen Indien“ habe dies nichts zu tun, protestierte der Schriftsteller Théophile Gautier – was ihn aber nicht daran hinderte, viele Gedichte über idealisierte Bajaderen zu schreiben, die beinahe alle ein Bühnenwerk inspiriert haben. Das berühmteste war das Ballett „Sakountala“, das 1858 an der damals „Kaiserlichen Oper von Paris“ uraufgeführt wurde. Der Choreograph war Lucien Petipa, der ältere Bruder von Marius, der auch mit von der Partie war. Denn alle Männer in der aus Marseille stammenden Familie Petipa waren Tänzer, und Marius (1818-1910) stand mit fünf schon auf der Opernbühne in Brüssel. Über New York (1839) und Madrid (1845) landete er schließlich 1847 in Sankt Petersburg, wo er einer der wichtigsten und einflussreichsten Choreographen aller Zeiten wurde. Leider kennen wir heute nur noch einen Bruchteil seiner über sechzig (!) großen Ballette. Das hat mit der Ballettwelt im Allgemeinen und auch mit den politischen Wirren in Russland zu tun.

Für jedes seiner neuen Ballette – mindestens eines pro Jahr – wählte Petipa ein exotisches Sujet. Nach Tulpen aus Haarlem, Wasserrosen aus China („Nénuphar“), einer Eisprinzessin vom Nordpol („La fille des neiges“), einer Zigeunerin aus Spanien („Zoraya“) folgte eine indische Tempeltänzerin: „La Bayadère“. Petipa musste alle Tänzer des Theaters beschäftigen, die ihre Rollen dann bis zu ihrem Tode weitertanzen durften. So gab es 250 Rollen (!) in dem ausführlichen Libretto (das heute noch erhalten ist). Die Musik schrieb der gebürtige Österreicher Ludwig Minkus (1826-1917), der ungefähr zeitgleich mit Petipa in Sankt Petersburg ankam und dort von erster Geige im Orchester zum Kapellmeister und dann zum Hofkomponisten aufstieg (bis er in dieser Funktion durch Tschaikowski abgelöst wurde). Vom Ballettkomponisten wurde damals erwartet, dass er zu jeder Nummer im Libretto eine Melodie schrieb, auf die man gut tanzen konnte – mehr nicht. Das erklärt, warum Tschaikowskis „Schwanensee“ bei seiner Uraufführung in Moskau 1877 ein totales Fiasko wurde. Denn die Choreographen und Tänzer fühlten sich durch den symphonischen Charakter der Musik überfordert und waren nicht im Stande, diese in Gruppenbewegungen umzusetzen. Sie fanden also keine andere Lösung, als hemmungslos zu streichen und das großangelegte Werk in kleine Tanz-Nummern zu zerstückeln. Genau zur gleichen Zeit choreographierte Petipa „La Bayadère“ in Sankt Petersburg und zeigte wie man symphonische Musik in Tanz umsetzt. Das Publikum, die Zarenfamilie und die internationalen Tanzkritiker waren begeistert. Leider gab es keine Kopien der Partitur (die Werke von Minkus wurden nicht gedruckt), und die einzige verlässliche Aufzeichnung des Werkes war die „Notation“ von Vladimir Stepanov (1866-1896), der mit einem selbst ausgedachten „Alphabet“ die Werke von Petipa aufschrieb. Doch in den Wirren der Russischen Revolution nahm der Mitarbeiter des Theaters, Nicholas Sergeyev (1876-1951), diese Unterlagen mit auf die Flucht, bis sie schließlich in der Universität von Harvard landeten, wo sie heute noch liegen. Das alles erklärt, warum „La Bayadère“ so wenig bekannt ist und beinahe ein Jahrhundert lang (fast) nur in Sankt Petersburg gespielt wurde: niemand anders hatte die Noten!

Rudolf Nurejew (1938-1993) hatte eine ganz besondere Beziehung zu „La Bayadère“. Es war das Ballett, mit dem er als junger Tänzer zum ersten Mal 1961 nach Paris kam. Es war sein erster internationaler Erfolg, der ihm das Selbstvertrauen gab, um den „größten Sprung seines Lebens“ zu wagen: den Sprung über den Eisernen Vorhang, mit dem er 1961 im Westen blieb. Für seine erste Tournee im Ausland präsentierte das damalige Kirov-Ballett aus Leningrad ein im Westen vollkommen unbekanntes Werk: den „Acte des ombres“ („Schattenakt“) aus „La Bayadère“. In diesem „grand pas classique“ für 24 (eigentlich 32 oder 48) Tänzerinnen erscheinen die Seelen der verstorbenen Tempeltänzerinnen dem Opium rauchenden Prinzen Solor auf den Höhen des Himalaja – ein typisches Motiv des romantischen Balletts, wie die „Willis“ in „Giselle“ oder die „Schwäne“ in „Schwanensee“. Die Rolle des Solor wurde ursprünglich durch den betagten „premier danseur“ der Truppe gemimt. Doch um der männlichen Partie mehr Gewicht zu geben, ließ Petipa es zu, dass ein jüngerer Kollege einige „Variationen“ einfügte, und so tanzte z.B. Nicolas Legat 1900 an dieser Stelle eine recht athletische Einlage aus dem Offenbach-Ballett „Papillon“. Rudolf Nurejew, der auf ausdrücklichen Wunsch der französischen Regierung diese Rolle 1961 in Paris tanzte, fügte an dieser Stelle noch die spektakulären Variationen aus dem Petipa-Ballett „Le Corsaire“ hinzu. Musikalisch, kunsthistorisch und dramaturgisch ist das alles etwas bedenklich, aber in der Ballett-Welt nimmt man es bis heute mit diesen „Einlagen“ nicht all zu genau – so wie man es bis vor circa vierzig Jahren in der Opernwelt auch nicht tat. Rudolf Nurejew erzielte einen Triumph, wurde über Nacht ein Weltstar und seine erste Arbeit als Choreograph war genau dieser „Acte des ombres“, den er 1963 für das Royal Ballet und Margot Fonteyn choreographierte. Er besaß zwar nur einen Klavierauszug des „Schattenaktes“, doch der englische Arrangeur John Lanchbery verstand diesen einigermaßen zu orchestrieren – und mit Musik scheint man es in der Ballettwelt auch nicht so genau zu nehmen.

Rudolf Nurejew machte sich einen Namen als Choreographen, der die großen Ballette von Petipa „zurück in den Westen“ brachte. Er fing an mit „Raymonda“ (1964 in London), „Schwanensee“ und „Don Quichotte“ (1964 und 1966 in Wien) und träumte von einer „Bayadère“ – doch nirgendwo konnte er eine Partitur bekommen. 1970 floh Natalia Makarowa auf einer Kirov-Tournee in den Westen und schaffte es, ungefähr die Hälfte der Bayadère-Partitur rauszuschmuggeln. Wieder sprang John Lanchbery in die Bresche und wurde die erste „vollständige“ Bayadère im Westen aufgeführt (1980 in New York, die über viele Umwege 1989 an der Scala landete). Inzwischen war Nurejew wieder kurz in Sankt Petersburg gewesen und schaffte es, im Archiv des Kirov die Partitur zu fotokopieren. Dass tat er jedoch so schnell, dass er nur den unteren Teil der Seiten kopierte – also auf jeder Seite das obere Drittel fehlte. Wieder sprang John Lanchbery ein – ohne dass darüber gesprochen wurde (die Programmhefte der Pariser Oper sind äußerst diskret in diesen Fragen), und ohne dass dies bis heute jemandem aufgefallen wäre oder stören würde. Da es für alle klar war, dass „La Bajadère“ Nurejews letzte Arbeit und wahrscheinlich sein künstlerisches Testament sein würde – er starb kurz nach der Première -, bekam er für dieses Ballett fast unbegrenzte Möglichkeiten. Petipa hatte bei der Uraufführung fünf Bühnenbildner in Dienst genommen (darunter ein gewisser Heinrich Wagner) – quasi einen für jeden der vier Akte. Ezio Frigerio – in Wien vor allem bekannt als Bühnenbildner von Giorgio Strehler – entwarf einen prächtigen indischen Palast, inspiriert durch den Taj Mahal. Im Gegensatz zu den üblichen Ballett-Bühnenbildern wurde der Palast nicht auf Prospekte gemalt, sondern gebaut – und wurde damit das wahrscheinlich teuerste Ballett-Bühnenbild in der Geschichte der Pariser Oper.

Beinahe alle im ursprünglichen Libretto von Petipa erwähnten Requisiten sind vorhanden, von der indischen Laute, zum toten Tiger bis hin zum 4 Meter hohen, „mit Schmuck behängten Elefanten“, mit dem Prinz Solor beim Rajah von Golkonda erscheint. Und noch viel mehr, denn Nurejew wollte zusätzlich noch einen zehn Meter hohen Elefanten, den man gerade mal 20 Sekunden sieht – und bekam den letzten Schrei-Anfall seines Leben, um diesen Elefanten noch durchzusetzen. So erklärt es sich, dass es in Paris bei drei statt vier Akten blieb (wie in vielen anderen Theatern auch). Denn für den letzten Akt, in dem der ganze Palast bei einem großen Hochzeitsgelage einstürzt, fehlte dann leider doch das Geld (so wie es mir der Bühnenbildner gestand). Aber das ist niemanden aufgefallen, denn die beinahe dreihundert orientalischen Kostüme von Franca Scuarciapino und die Beleuchtung von Vinicio Cheli sind so prächtig, dass niemand den Eindruck haben kann, dass hier vielleicht etwas fehlt.

Und die Geschichte funktioniert auch so. Petipa hatte kurz zuvor die Ballette für die Russische Erstaufführung der „Aida“ konzipiert, die man in der „Bajadere“ wiedererkennt (wie auch „Norma“ und „La Vestale“). Ein Prinz (Solor/Radamès) verliebt sich in eine arme Gefangene (Aida)/die keusche Tempeltänzerin (Nikiya). Doch er soll die Prinzessin Gamzatti /(Amneris) heiraten, die betrübt bemerkt, dass sein Herz einer anderen gehört. Der Oberpriester/Brahmane ist auch in Nikiya verliebt und ebenfalls eifersüchtig – also eine klassische Dreiecksbeziehung, so wie wir sie aus vielen Opern des 19. Jahrhunderts kennen. Die Geschichte endet damit, dass Nikiya gezwungen wird, auf der Verlobung Solors zu tanzen und dabei tot umfällt, er untröstlich ist, und sie sich beide als Seelen im Himalaja wiederfinden, um dort auf ewig vereint zu werden. Ein „Liebestod“ wie bei „Aida“ und „Norma“ – nur dieses Mal getanzt.

Die Rolle der Nikiya ist ähnlich schwer und lang, wie die der Odette/Odile aus „Schwanensee“ und wurde durch die allergrößten russischen Ballerinen verkörpert: Ekaterina Vazem, Anna Pawlowa, Tamara Karsawina und, zu Nurejews Zeiten, Ninel Kourgapkina und Natalia Makarowa. Von den vielleicht zehn Tänzerinnen, die wir in der Nurejew-Bajadere gesehen haben, die seit 1992 der Stern im Repertoire der Pariser Oper ist, hat Monique Loudières 1993 den größten Eindruck auf uns gemacht. Sie füllte die Rolle der Nikiya mit einer ganz einzigartigen Melancholie – wie anscheinend auch die Pawlowa – und war deswegen eines der Lieblingstänzerinnen von Nurejew. Die Première wurde 1992 getanzt durch Isabelle Guérin, einer eindrucksvollen Technikerin, danach durch Agnès Letestu, die 2006 übernahm und heute (offiziell im Ruhestand) für Nikiya immer noch an die Pariser Oper zurückkehrt. Jetzt erlebten wir die „étoileMyriam Ould-Braham, die wir mehr aus dem modernen Repertoire kennen. Ihr großes „Todessolo“ war wirklich ergreifend, doch den Rest des langen Abends wirkte sie vergleichsweise abwesend, auf ihre perfekte Technik konzentriert. Solor war die Lieblingsrolle von Nurejew – weil er dort so viel springen konnte. Man braucht also einen kräftigen „danseur noble“, und in dieser Hinsicht war Manuel Legris 1993 eine Ideal-Besetzung – lange bevor er nach Wien kam und dort jetzt seinen verehrten Meister in hohen Ehren hält. Einer der besten heutigen Solors in Paris ist wahrscheinlich Mathias Heymann. Wir sahen stattdessen den „premier danseurFrançois Alu, der diese Rolle tanzen durfte, weil er eine unglaubliche Sprungkraft hat. Er springt fast einen Meter höher als seine Kollegen, tanzte alle zugefügten Variationen im dritten Akt und auf der letzten Note sprang er aus dem Stand noch einmal in die Luft für einen „triple tour en l’air“, den er unter Beifallsstürmen auch noch einmal wiederholte. Auch für Prinzessin Gamzatti gab es keine „étoile“, sondern die junge Charline Giezendanner, die die technisch schwere Rolle wirklich glänzend meisterte, genauso gut wie bei der Uraufführung Elisabeth Platel – die jetzt die Ballett-Schule der Pariser Oper leitet.

So werden die Rollen von Generation zu Generation weitergegeben, und es ist ein Vergnügen, so viele junge Tänzer in die Fußtapfen ihrer älteren Kollegen treten zu sehen. Ein „einfaches Ensemblemitglied“ Bruno Bouché tanzte den Rajah von Golkonda und der kaum zwanzigjährige Antoine Kirscher die genauso wichtige Rolle des Fakir. Emmanuel Thibault ist seit Jahren der Publikumsliebling in der von Nurejew eingefügten Rolle der „Idole dorée“ („goldener Gott“), doch sein Applaus wurde ihm an diesem Abend durch einen kaum zehnjährigen Eleven der Ballett-Schule streitig gemacht, der als kleiner schwarzer Neger (einer der vielen im Programmheft leider nicht aufgeführten Rollen) mit einer solchen Wonne tanzte, dass ihm alle Herzen zuflogen. Im berühmten „Acte des ombres“ hielt der ganze Saal den Atem an. Denn wenn nur eine der 32 Tänzerinnen im berühmt-berüchtigten „Schattenakt“ ausrutscht, ist der ganze Abend hin. Petipa hat in diesem „grand pas classique“ das Äußerste von seinem „Corps de Ballet“ gefordert: Die Tänzerinnen kommen über eine Schräge mit einem schnellen Schritt auf die Bühne, bremsen mit einer „arabesque cambrée“ und beugen sich dabei so stark nach vorne, dass sie nur noch mit einem nach oben ausgestreckten Arm das Gleichgewicht halten können – während sie das rechte Bein genauso weit nach oben strecken. Und das beinahe zwanzig Minuten lang, vollkommen synchron alle miteinander. Natalia Makarowa erklärte, dass „westliche Ballerinen nicht die Kraft hätten“ um die Beine so weit zu heben und veränderte die Position in eine Arabeske mit waagerecht gestrecktem Bein. Doch Nurejew bestand auf der „arabesque cambrée“ und erklärte, dass es wahrscheinlich zehn Jahre dauern würde, bis man seine „Bayadère“ in Paris wirklich tanzen könne. 22 Jahre nach seinem Tod ist dies nun absolut der Fall. Wir waren begeistert von diesem „einfachen Repertoire-Abend“. Nicht von dem mittelmäßigen Orchestre Colonne unter der soliden Leitung von Fayçal Karoui – zu Nurejews Zeiten spielte an Ballett-Abenden noch das Orchester der Pariser Oper – sondern von den vielen jungen und hochbegabten Tänzern. Sie sind die Zukunft dieser „Bayadère“, die hoffentlich noch lange auf dem Spielplan bleiben und eines Tages auch einmal nach Wien kommen wird. 1998 brachte Patrice Bart von der Pariser Oper „La Bayadère“ zum ersten Mal nach Deutschland, an die Bayerische Staatsoper. 1999 rekonstruierte Vladimir Malakhov eine vieraktige Version an der Wiener Staatsoper, die er dann nach Berlin nahm an „sein“ Staatsballett. Und wann sehen wir einmal das vollständige Ballett, mit allen Akten, allen Rollen und der ganzen Musik? Hoffentlich bald!

Waldemar Kamer / Paris 31.12.2015

Bilder (c) Little Shao / Opera de Paris