Zürich, Ballett: „Walkways“

Der dreiteilige Ballettabend zum Saisonstart des Ballett Zürich unter der neuen Ballettdirektorin Cathy Marston eröffnet vielerlei Einblicke in die Möglichkeiten des Tanzes. Die unter dem Titel WALKWAYS zusammengefassten drei Choreografien von Wayne McGregor, Cathy Marston und Jerome Robbins ermöglichen die Auseinandersetzung mit drei ganz individuellen choreografischen Handschriften, mit unterschiedlichem Einbezug von Musik und Setting.

(c) Carlos Quezada

Bei INFRA von Wayne McGregor spielt die LED-Leinwand, welche Julian Opie entworfen hatte, eine tragende Rolle. Die in unterschiedlichen Geschwindigkeiten darauf vorbeischreitenden Grossstadt-Menschen aus Leuchtpunkten dominieren die gesamte Breite der Bühne in der oberen Hälfte – und man muss sich schon sehr auf die darunter tanzenden Mitglieder der Compagnie des Ballett Zürich konzentrieren, um das Auge nicht an den Leuchtmännchen kleben zu lassen. Das intendierte Gesamtkunstwerk (Bühne-Tanz-Musik), das gemäß Aussage des Choreografen zu seinem Stück „unter die Haut gehen soll“, stellt sich so leider zu Beginn nicht restlos ein. Zu stark wird das Auge auf die Screen fixiert, das darunter stattfindende Leben erscheint vom Bewegungsvokabular her gesehen erst mal etwas beliebig. Im Verlauf des knapp dreissig Minuten dauernden Stücks bewirkt die von einem live spielenden Streichquintett (Ada Pesch, Maya Kadosh, Karen Forster, Lev Sikov, Seiji Yakota) und Klavier (Yulia Luisi-Levin) mit elektronischen Klängen angereicherte Musik von Max Richter allerdings dann doch eine gewisse Sogwirkung. Viel dazu trägt auch die fabelhafte Lichtgestaltung von Lucy Carter bei. Die eng auf den Bühnenboden geworfenen sechs Lichtquadrate, in denen nacheinander solistische Paare auf engstem Raum akrobatische Leistungen erbringen, ist absolut faszinierend. Je mehr man sich von den Lichtpunktmännchen und -frauchen löst, desto grösser wird das Interesse am Tanz, an den unterschiedlichen Konstellationen und kleinen Dramen, die sich da quasi unter der Folie des städtischen Alltags abspielen. Diese vermögen gegen Ende immer mehr zu fesseln. Die tänzerischen Leistungen von Dores André, Esteban Berlanga, Chandler Dalton, Brandon Lawrence, Sujung Lim, Nehanda Péguillan, McKhayla Pettingill, Max Richter, Giulia Tonelli, Dustin True, Charles-Louis Yoshiyama und Juan Sebastian Valdez sind von faszinierender, ungemein biegsamer Körperlichkeit. Wenn man die Möglichkeit hat, sollte man sich das ein zweites Mal ansehen und sich mehr auf die untere Hälfte der Bühne konzentrieren.

(c) Carlos Quezada

Die neue Ballettdirektorin Cathy Marston will mit ihren eigenen Choreografien Geschichten erzählen. Für den ersten von ihr verantworteten Ballettabend hat sie ihre Arbeit SNOWBLIND, welche vor fünf Jahren für das San Francisco Ballett entstanden war, in die Mitte des dreiteiligen Abends gesetzt: Ein Handlungsballett also, umrahmt von zwei abstrakten Tanzschöpfungen. Cathy Marstons SNOWBLIND basiert auf dem Roman ETHAN FROME von Edith Wharton, die darin eine differenziert ausgestaltete und in einer Rahmenhandlung eingebettete Geschichte erzählt. Diese Geschichte muss für ein nur dreißig Minuten dauerndes Ballett stark – und nicht ohne inhaltliche Verluste – komprimiert werden. Marston hat sowohl die Rahmenhandlung als auch die Nebenfiguren weggelassen, konzentriert sich ausschließlich auf Ethan, dessen Ehefrau Zeena und Mattie, die verarmte Cousine Zeenas und Haushalthilfe bei den Fromes. Zusätzlich hat Marston fünfzehn Tänzer mit diversen Aufgaben betraut; sie stellen gleich des Chors in einer griechischen Tragödie Nachbarn, Angestellte und Schnee dar, ziehen wie Erinnyen das tragische Paar Ethan-Mattie in den misslungenen Suizid. Die spartanische Bühne von Patrick Kinmonth (er entwarf auch die Kostüme) wird von einer vereisten, symbolistisch klirrenden Kälte ausstrahlenden Scheibe unterteilt. Im Hintergrund sieht man ein einfaches Bett und einen Stuhl auf einem Podest, vorne einen einzigen Stuhl, der vornehmlich von der die eheliche Beziehung durch ihre Hypochondrie terrorisierende Zeena eingenommen wird. Shelby Williams tanzt eine überaus strenge, kalte und unnahbare Zeena. Wunderbar zu dieser frigiden Strenge passt der für sie eingesetzte Tanz auf der Spitze. Ganz anders (auch vom roten, weich fließenden Kostüm her, das sich deutlich vom grau-weiß der restlichen Kostüme absetzt) die lebenslustige Mattie von Dores André. Dazwischen steht der immer stärker verzweifelnde und an der Situation der Ausweglosigkeit leidende Ethan von Charles-Louis Yoshiyama, der diesem einfachen, aber ehrlichen Mann einnehmendes Profil verleiht. Cathy Marston gelingen einige wunderbare, eindringliche Momente: So zum Beispiel in der Szene, wo Zeena Mattie ihren Platz in der Rangordnung zuweist, indem sie ihr eine Schürze umbindet. Später wird Ethan sein Gesicht in diese Schürze drücken, eine Idee, die Marston aus der Verfilmung (Regie: John Madden) des Romans übernommen hat, wo Liam Neeson als Ethan sein Gesicht in die Stickerei Matties (Patricia Arquette) vergräbt. Weggelassen hat Marston jedoch die aus dem Roman so berühmte Symbolik des broken pickle dish. Auch der versuchte Suizid von Ethan und Mattie (im Roman eine waghalsige Schlittenfahrt) wirkt in der abstrahierten Umsetzung in der Choreografie für mich nicht restlos überzeugend. Ganz stark jedoch das Ende: Zeena findet das schneeblind gewordene Paar (in der literarischen Vorlage ist Ethan schwer verletzt und wird künftig gehbehindert und Mattie wird mit Querschnittslähmung für immer ans Bett gefesselt sein) – und von nun an sind die drei unentrinnbar aneinander gefesselt, was Cathy Marston in der fantastischen Choreografie eines eindringlichen Pas de trois zeigt, in dem sechs Hände einander praktisch nie loslassen, drei Menschen sind für den Rest ihres Lebens in ihren gegenseitigen Abhängigkeiten aneinander gefesselt. Der Komponist Philip Feeney hat Werke der beiden amerikanischen Spätromantiker Amy Beach und Arthur Foote, sowie ein Lamentate von Arvo Pärt arrangiert. Die Verschränkung Musik – Tanz – Geschichte erhält so eine berührende Stimmigkeit.

(c) Carlos Quesada

Zum Höhepunkt des dreiteiligen Abends geriet jedoch die älteste der drei Choreografien, vor 40 Jahren für das New York City Ballet kreiert: Jerome Robbins‘ GLASS PIECES. Die repetitiven, minimalistischen Kompositionen von Philip Glass animierten Robbins zu einer atemberaubenden Choreografie, einem Strudel nie erlahmender Bewegungen und Spannungen. Die Rastlosigkeit der Musik wurde von der Compagnie mit jeder Faser des Körpers aufgenommen und transportiert, Perfektion gepaart mit Kraft. Das Junior Ballett ergänzte das Corps des Ballett Zürich in den rasanten Massenszenen; die solistischen Paare wurden von Elena Vostrotina und Brandon Lawrence (im wunderschön ausgeleuchteten 2. Satz), von Aurore Aleman Lissitzky und Esteban Berlanga, von Giulia Tonelli und Max Cuthorn und von Giorgia Giani und Wei Chen (im ersten Satz) mit makelloser Reinheit getanzt. Ganz große Klasse von allen! Da passte einfach alles: Das Bühnenbild von Jerome Robbins und Ronald Bates, die Kostüme von Ben Benson, adaptiert von Holly Hines, das Lichtdesign von Jennifer Tipton und Kevin Briard und die mit konstanter, nie nachlassender Energie von der Philharmonia Zürich unter Daniel Capps interpretierte Musik von Philipp Glass – ein fabelhafter Schlusspunkt dieses Abends!

Kaspar Sannemann 7. Oktober 2023


Walkways

Zürich, Opernhaus

Ballettabend am 6. Oktober2023

INFRA | Choreografie: Wayne Mc Gregor | Musik: Max Richter | Uraufführung: 13. November 2008 in London

SNOWBLIND | Chroeografie: Cathy Marston | Musik: Amy Beach, Philip Feeney, Arthur Foote, Arvo Pärt | Uraufführung: 21. April 2018 in San Francisco |

GLASS PIECES | Choreografie: Jerome Robbins | Musik: Philipp Glass | Uraufführung: 12. Mai 1983 in New York |