Frankfurt: „Król Roger“, Karol Szymanowski

Bericht von den Aufführungen am 9. und 15. Juni 2019

(Premiere: 2. Juni 2019)

Klang und Rausch

Am Anfang steht der pure Klang. Der eiserne Vorhang ist noch heruntergelassen und verdeckt auch den Orchestergraben. Kaum hört man, wie sich die Instrumente dahinter einstimmen. Dann verlischt das Saallicht. In völliger Dunkelheit vernimmt man hinter dem Vorhang einen Gongschlag. Der Chor setzt von Ferne ein. Noch ist auch die Übertitelanlage verborgen, so daß man den Sinn der in einer fremden Sprache gesungenen Worte nicht erfassen kann. Es sind jedenfalls Klänge aus der orthodoxen Liturgie, die nun mit ihrem erhabenen Ernst und ihrer strengen Schönheit den Raum erfüllen. Ein ungemein starker Beginn.

Die Faszination des Klanges wird auch den restlichen Abend über die Aufführung bestimmen. Karol Szymanowski hatte in seiner Partitur spätestromantisch und hochexpressiv die großen musikalischen Strömungen des frühen 20. Jahrhunderts aufgenommen, mit Orientalismen gewürzt und zu einer charakteristischen eigenen Klangsprache geformt. Sylvain Cambreling, der vor über 20 Jahren im Zorn aus seinem Amt als Frankfurter Generalmusikdirektor geschiedene Dirigent, ist für den Król Roger erstmals wieder an das Pult des Opernorchesters zurückgekehrt, und es ist eine triumphale Rückkehr geworden. Die komplexe Partitur wird mit dem ganzen Reichtum ihrer Klangfarben nuanciert aufgefächert, zugleich wird ihre Sinnlichkeit entfaltet. Cambreling läßt das ausgezeichnet vorbereitete Orchester funkeln und rauschen, daß es eine Lust ist. Der stark geforderte Chor fügt sich machtvoll ein.

vorne v.l.n.r. AJ Glueckert (Edrisi), Alfred Reiter (Der Erzbischof), Łukasz Goliński (König Roger), Judita Nagyová (Die Diakonissin) und Sydney Mancasola (Roxana; in der Hocke) sowie im Hintergrund Ensemble

Dem Klangrausch setzt das Inszenierungsteam visuelle Klarheit und Strenge entgegen. Das Bühnenbild von Johannes Leiacker ist maximal abstrakt. Es zeigt eine den Bühnenboden bedeckende weiße Plattform, an die sich spitzwinklig eine ebenso weiße Rückfront anschließt, die sich weit nach oben erstreckt. In der Mitte klafft ein dunkler Spalt. Nichts erinnert im ersten Akt an die im Libretto vorgesehene „byzantinische Kirche“, nichts an den „Innenhof des Königspalasts“ im zweiten Akt und nichts an die „Ruine eines antiken Theaters“ als Handlungsort des dritten Aktes. Regisseur Johannes Erath geht es ersichtlich nicht um die Illustration des Geschehensablaufs, sondern um die Visualisierung einer inneren Entwicklung der Titelfigur. Wenn der Vorhang sich nach dem Beginn in Dunkelheit schließlich hebt, sieht man einen verzweifelt mit sich ringenden König inmitten einer Volksmenge. Seine Beziehung zur Gattin Roxana scheint ebenso gestört zu sein, wie sein Verhältnis zu den ihn umgebenden Untertanen und der in Gestalt eines Erzbischofs und einer Diakonissin präsenten Kirche. Das Erscheinen eines mysteriösen Hirten, der Volk und Gattin mit der Verlockung von Freiheit und Lust verführt, löst in ihm einen quälenden Entwicklungsprozeß aus, der am Ende in Hinwendung zu einem apollinischen Sonnenkult mündet, dessen abstrakte Reinheit im Kontrast zur triebhaften Lust steht, die der Hirte verkörpert.

Filip Niewiadomski (Kind) und Gerard Schneider (Der Hirte) sowie Ensemble

So sehr sich der Regisseur von einer Handlung im eigentlichen Sinne entfernt, so plastisch zeichnet er das Eindringen des Fremden in eine Welt erdrückender Erstarrung. Während das Volk streng in schwarz gekleidet ist, erscheint der Hirte in einem luftigen weißen Leinenanzug. Gerard Schneider erweist sich als ideale Verkörperung des ebenso attraktiven wie unheimlichen Verführers. Sein Lächeln hat etwa gefährlich Gleisnerisches. Mit unter dem weit aufgeknöpften Hemd ausgestellter Brust demonstriert er virile Potenz. Geradezu lasziv wirkt es, wenn er genüßlich seine Beine mit den nackten Füßen räkelt. Seine jugendlich-blühende Stimme setzt er dazu verschwenderisch ein, ja man kann sagen: hemmungslos. Dieses leidenschaftliche Sich-Verströmen ist faszinierend anzuhören. Gleichwohl fragt man sich, ob das attraktive Stimmmaterial durch ein solches Singen unter Dauerhochdruck nicht beschädigt werden könnte. Schon jetzt ist bei wenigen exponierten Tönen zu merken, daß ihre Höhe nur mit zusätzlicher Kraftanstrengung bewältigt wird. Das war aufmerksamen Hörern schon vor einigen Monaten bei Schneiders Rudolfo in der Bohème an der Komischen Oper Berlin aufgefallen.

Die Titelrolle könnte man nicht besser besetzen als mit Łukasz Goliński. Er verfügt über einen kernigen Bariton mit unangestrengter Höhe und vermag es, seine Erfahrung mit dieser Partie zu differenzierter Gestaltung umzusetzen. Es ist keine geringe Aufgabe, den Regieansatz von der Zerrissenheit und inneren Entwicklung des sizilianischen Herrschers stimmschauspielerisch zu beglaubigen. Goliński gelingt das glänzend. AJ Glueckert ist ihm als sein Berater Edrisi mit charaktervollem Tenor ein ebenbürtiger Partner.

v.l.n.r. Alfred Reiter (Der Erzbischof; zur Wand gedreht), AJ Glueckert (Edrisi; vorne sitzend), Łukasz Goliński (König Roger), Sydney Mancasola (Roxana), Judita Nagyová (Die Diakonissin; zur Wand gedreht), Filip Niewiadomski

Sehr wirkungsvoll bringt Sidney Mancasola als Roxana ihren lyrischen Sopran in den orientalischen Melismen zur Geltung, mit denen der Komponist ihre Partie reichlich ausgestattet hat. Mit einem Schlaflied darf sie die einzige echte Arie der Oper singen, ein Stück, das Szymanowski für die isolierte Aufführung später sogar mit einem Konzertschluß versehen hat und das im innigen Vortrag durch Mancasola nicht seine Wirkung verfehlt. Alfred Reiter als knorriger Erzbischof und Juditha Nagiová als sonore Diakonissin runden das vorzügliche Ensemble ab.

Nach dem faszinierend opulent musizierten Fernen Klang hat das Orchester mit der ausgezeichneten Sängerbesetzung die Schraube des Klangrausches noch eine Windung weiter gedreht. In den beiden vom Kritiker besuchten Aufführungen war das Publikum derart in den Bann der Musik geraten und gleichsam narkotisiert worden, daß es nach dem abrupten Schlußakkord einige Sekunden benötigte, um zu erfassen, daß es tatsächlich vorbei war. Dann erst setzte zögerlich der Applaus ein, der sich schnell zu allgemeinem Jubel steigerte.

Weitere Vorstellungen gibt es am 19., 22., 27. und 29. Juni.

17.06.2019 Michael Demel

© der Bilder: Monika Rittershaus