Berlin: „Daphne“, Richard Strauss

Was hätten wohl die Kinder einen Tag zuvor in der Komischen Oper gesagt, wenn Tom Sawyer, statt am Mississippi zu angeln, am Nordpol Eisbären gejagt hätte? Sie wären sicherlich empört gewesen und hätten dem auch Ausdruck verliehen, ganz anders als die erwachsenen Zuschauer in der Staatsoper, die es einen Tag später klag- und buhlos geschehen ließen, dass nicht ein Fest der Reben im antiken Griechenland gefeiert wurde, die im Libretto so häufig zitierten Bäume, Blumen, Schmetterlinge und Quellen blühten, gaukelten und dufteten, sondern eine trostlose, zugeschneite und weiter zuschneiende Winterlandschaft mit Trümmern antiker Bildhauerkunst und einem einzigen, kümmerlichen Pflänzchen in der Mitte die Bühne für das Schicksal der menschlicher wie göttlicher Liebe abholden Daphne den Hintergrund bildeten. Die Leidensfähigkeit des Opernpublikums hat inzwischen erstaunliche Ausmaße erreicht, so dass am Ende freundlicher Beifall auch das Regieteam belohnte. Als solche und für sich genommen ist die Bühne von Romeo Castellucci auch perfekt, hat ihre eigene Poesie, und noch nie sah man es so naturgetreu schneien, gab es eine so poetische Lichtregie, wofür eben dieser Castellucci wie für die Kostüme und die Regie ebenfalls verantwortlich ist. Wenn allerdings in einem im Programmheft veröffentlichten Text verkündet wird: „An dieser Stelle unterstreichen wir die Distanzierung von der Natur, den Ausblick auf die Krise, die unsere Epoche kennzeichnet. Was davon übrigbleibt, ist nur ein überlebender Baum in einer Welt, die auf dem Rückzug ist“, dann stutzt man.

(c) Monika Rittershaus

Hoppla, denkt da der Zeitgenosse, sollte nicht durch Erderwärmung das Ende heraufbeschworen werden, und nun aber durch Schnee, wie das? Und warum reißt Daphne dieses armselige Überbleibsel von Natur auch noch aus dem Boden, so dass es bis zum Schluss traurig seine Wurzeln vom Schnürboden herabhängen lässt, während sich die Titelheldin in die Erde vergräbt. Im Programmheft wird der Besucher auch darüber aufgeklärt, warum sich Daphne trotz Kälte immer wieder bis auf Hemd und Slip entkleidet. Es ist „ein Nach-außen-Kehren, mit dem sie den direkten Kontakt zu Blumen, dem Wind, den Bäumen sucht“, die es aber auf der Bühne gar nicht gibt. Und noch aufgeklärter kann sich der ratlose Zuschauer fühlen, wenn er liest: „Es handelt sich in ihrem Fall bei genauer Betrachtung um Solipsismus“. Aha, das hätte man sich eigentlich denken können. Bei der Inszenierung an der Lindenoper handelt es sich einmal mehr um einen Fall von radikaler Optikveränderung entgegen den berechtigten, sich auf die Kenntnis vom Libretto gründenden Erwartungen, was allerdings nicht der Aufregung wert ist, denn die Handlung und die Charaktere bleiben unangetastet, abgesehen von einem seltsamen, an einen erzwungenen gynäkologischen Eingriff erinnernden Vorgang. Und vergnüglicher wäre für den Zuschauer sicher auch ein Fest in einer dafür geeigneteren Jahreszeit gewesen, so wie im Libretto vorgesehen. Der Kontrast zur Askese der keuschen Daphne wäre ein offensichtlicherer gewesen. Und gänzlich fehl am Platz und ein Fremdkörper war das Herabsenken der Titelseite von Eliots „The waste Land“. 

(c) Monika Rittershaus

Im Orchestergraben allerdings blühte, duftete, atmete es dafür mit umso größerer Lust und Intensität, war das akustische Farbspektrum ein Riesenkontrast zum sterilen Weiß der Bühne. Thomas Guggeis fächerte das Farbspektrum der Partitur schillernd auf, stellte der Unsinnlichkeit der Bühne akustische Sinnenfreude entgegen.

René Pape verlieh dem Peneios darstellerische und vokale Autorität. Als Gaea präsentierte Anna Kissjudit den dunkelsten, wärmsten, sinnlichsten Alt, den man sich denken kann. Mit feinem lyrischem Tenor ersang sich Magnus Dietrich als Leukippos die Publikumssympathien. In der Wahnsinnspartie des Apollo zeigte Pavel Cernoch vokales Licht, aber auch einigen Schatten, d.h. die Stimme spricht nicht in allen Lagen gleich gut an. Die Partie ist eine derjenigen, die Strauss den Ruf einbrachten, er möge Tenöre nicht. Aus dem Ensemble besetzt und nicht enttäuschend agierten als vier Schäfer Arttu Kataja, Florian Hoffmann, Roman Trekel und Friedrich Hamel sowie Evelin Novak und Natalia Skrycka als Mägde. Der Erfolg der Oper hängt natürlich in erster Linie von den Qualitäten der Sängerin der Daphne ab. Vera-Lotte Boecker war darstellerisch wie vokal eine Idealbesetzung mit silbrig flirrender Straussstimme, sicherer, nie gefährdeter Höhe und auch optisch stets Mittelpunkt des Geschehens bleibend.

Man kann diese Produktion lieben, weil sie einfach perfekt ist, man kann sie aber auch ablehnen, weil ihre Optik der Musik ins Gesicht schlägt.

Ingrid Wanja, 20. Februar 2023


„Daphne“ von Richard Strauss

Staatsoper Berlin

Premiere am 19. Februar 2023

Inszenierung:  Romeo Castellucci

Musikalische Leitung: Thomas Guggeis

Orchester der Staatsoper Berlin