Dresden: „Doktor Faust“

Besuchte Vorstellung am 7. Mai 2017

Premiere am 19. März 2017

Packendes Musiktheater

Der 1866 geborene Deutsch-Italiener Ferruccio Busoni hatte sich bei seinem unvollendet gebliebenen musikdramatischen Hauptwerk für den Faust des mittelalterlichen Puppenspiels entschieden; jede Nähe zu Goethe vermied er aus großem Respekt gegenüber dem Dichterfürsten. Philipp Jarnach ergänzte und vollendete mit Zustimmung von Busonis Witwe die nach dessen Vorwort zur Partitur „an das alte Mysterium anknüpfendende“ Oper, die am 21. Mai 1925 in Dresden uraufgeführt wurde. Jetzt gab es das Werk erstmals wieder an der Semperoper, allerdings nicht in der Jarnach-Fassung, sondern man spielte die 1984 in Bologna uraufgeführte Fassung von Anthony Beaumont mit dem von Busoni eigentlich geplanten Schluss: Faust vermacht Seele und Streben seinem Kind, so mildert er seine höllische Verdammnis. In dieser Fassung wird der gedankenschnelle Teufel Mephistopheles zunehmend unwichtig. Faust ist mehr Anarchist und Abenteurer als Gelehrter; zum Philosoph wächst er erst in den beiden letzten Bildern.

Die verschiedenen Szenen in „Doktor Faust“ werden musikalisch jeweils sehr unterschiedlich gestaltet: So gibt es beim Teufelspakt kunstvoll polyphone Osterklänge mit Orgel und Glockengeläut, während sich am Hof zu Parma eine geradezu barocke Tanz-Suite entwickelt. In Wittenberg fließen das katholische Te Deum und der protestantische Luther-Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“ in einer Fuge zusammen. All dies passt zu Busonis im Vorwort zu „Doktor Faust“ erläuterter Auffassung, dass „die Oper alle Mittel und Formen … vereint in sich birgt, sie gestattet und sie fordert.“

Die Verwirklichung der vielschichtigen Oper ist wegen der sehr unterschiedlichen, fast ohne Bezug zueinander stehenden Szenen und der hohen musikalischen Anforderungen für jedes Haus eine ungemein anspruchsvolle Aufgabe.

Lester Lynch/Manuela Uhl

Mit der Neuinszenierung ist Keith Warner, dem Bühnenbildner Tilo Steffens und der Kostümbildnerin Julia Müer mit Hilfe von Manuel Kolip (Video) und Karl Alfred Schreiner (Choreografie) eine durchgängig packende Produktion gelungen – Musiktheater vom Feinsten! Die Zeitlosigkeit des Stoffes wurde durch die Kostümierung vom Mittelalter bis in die Gegenwart verdeutlicht; während der Ouvertüre und der Zwischenspiele gab es eindringliche Traumbilder, dargestellt von Statisten und Tänzern. Hier konnten sich auch durch sinnfällige Andeutungen und raffinierte Lichtregie die schnellen Szenenwechsel entwickeln, in denen der jeweilige Spielort mit wenigen Mitteln gekennzeichnet wurde, wobei alles geradezu bruchlos ineinander überging, meisterhafte Leistungen auch der Technik.

Die Oper lebt ganz wesentlich von der Gestaltungskraft der Verkörperung der beiden Hauptfiguren Faust und Mephisto, denen auch stimmlich viel abverlangt wird. Von den beiden Protagonisten wurde man nicht enttäuscht, im Gegenteil, sie begeisterten in hohem Maße durch lebendiges Spiel und enorme musikalische Ausdruckskraft. Lester Lynch stellte die Wandlung des ungestümen Weltenforschers zum nachdenklichen, schließlich die eigene Vergänglichkeit erkennenden und sich selbst überwindenden Philosophen mit beeindruckender Intensität dar. Dazu leistete er mit seinem volltimbrierten Bariton Großartiges, indem es ihm gelang, mit nie nachlassender Kraft in allen Lagen gleichmäßig abgerundet zu singen. Ebenso glänzend waren die Auftritte von Mark Le Brocq als überaus lebendig agierender Mephisto, der zur Darstellung des Höllenboten keinerlei teuflische Attribute benötigte. Sein äußerst wandlungsfähiger und durchschlagskräftiger Charaktertenor schien wie für diese Partie geschaffen.

Lester Lynch/Mark Le Brocq

Die kleinere Rolle der Herzogin von Parma war bei Manuela Uhl in guten Händen; trotz einer angesagten Indisposition meisterte sie die sängerischen Finessen in unangenehmer Höhenlage problemlos. In den zahlreichen Nebenrollen zeigte sich das durchgängig hohe Niveau von Sängerensemble und Gästen der Semperoper; nur beispielsweise und stellvertretend seien genannt Michael Eder (Wagner), Jürgen Müller (Megäros, Herzog von Parma u.a.), Sebastian Wartig (u.a. Soldat, des Mädchens Bruder) oder Tilmann Rönnebeck (Levis/Theologe). Ausgesprochen stimmschön erklangen aus dem Off Roxana Incontrera, Angela Liebold und Elisabeth Wilke.

Mark Le Brocq/Lester Lynch

Der Staatsopernchor in der Einstudierung von Jörn Hinnerk Andresen hatte reichlich zu tun und erfreute durch immer ausgewogene Klangpracht. Dass die in allen Gruppen ausgezeichnete Staatskapelle die Sänger trotz teilweise sehr üppiger Instrumentierung nicht allzu sehr bedrängte, dafür sorgte mit unspektakulär präziser Zeichengebung Tomáš Netopil, der damit durchgehend für den nötigen Zusammenhalt sorgte.

Das Publikum im schätzungsweise noch nicht einmal zur Hälfte besetzten Haus war zu Recht vollauf begeistert und zeigte dies durch starken, lang anhaltenden Beifall für alle Mitwirkenden.

Gerhard Eckels 9. Mai 2017

Fotos: Jochen Quast