Graz: Oberon

So soll „Opernmuseum“ sein!

Wenn man wenige Tage nach der erfolgreichen Wiederaufnahme des veristischen Opernhits Tosca wiederum die Grazer Oper betritt, um diesmal eine konzertante Opernaufführung zu erleben, dann denkt man unwillkürlich an jenen Brief, den der greise Richard Strauss im April 1945 an seinen Vertrauten Karl Böhm geschrieben hatte. Darin findet sich nämlich der „Spielplan eines Opernmuseums“, auf das „die gebildete Welt denselben Anspruch hat, wie an die Pinakothek oder den Prado und Louvre“. Und in diesem von Richard Strauss geforderten Spielplan scheint Carl Maria von Weber nicht nur mit seinem Freischütz, sondern auch mit Euryanthe und Oberon auf, Giacomo Puccini hingegen mit keinem einzigen Werk. Nun, mit diesem Vorschlag ist Richard Strauss nicht durchgedrungen, wie die eben von der Wiener Staatsoper aus Anlass ihres Jubiläums herausgegebene Werkstatistik belegt: in der Wiener Staatsoper wurde Tosca in 150 Jahren bisher 1064-mal und Oberon nur 52-mal gespielt. Wie schwer sich heutzutage die Bühnen mit der Aufführung dieses letzten Werks von Weber tun, zeigt folgendes zeitliches Zusammentreffen: Am selben Abend wie in Graz spielte man Oberon im Theater an der Wien in einer von Puppen gestalteten Version mit Kammerorchester und am Tag danach gab es in Oldenburg eine Aufführung mit Klavierbegleitung und Moderation – übrigens mit eben jenem Hüon, der auch in Graz diese Partie singt.

Graz hat einen Mittelweg gewählt: Hier spielt man das Werk mit der vorgesehenen großen Chor- und Orchesterbesetzung und ersetzt die Aktion durch Videoprojektionen und eine Erzählerin, die Verse aus Christoph Martin Wielands Epos „Oberon. Ein Gedicht in zwölf Gesängen“ (1780) vorträgt. Es ist dies jene Fassung, die der deutsche Dirigent Werner Seitzer vor etwa 10 Jahren zusammengestellt hatte und die in Deutschland seither wiederholt aufgeführt wurde – zuletzt etwa in Köln. Oberon wurde in Graz letztmals in der Saison 1952/53 szenisch aufgeführt – es war also hoch an der Zeit, vor dem Grazer Opernpublikum die wunderschöne und farbenreiche Musik Webers wieder in ihrer vollen Pracht auszubreiten.

Die Oper Graz setzt ihre Tradition fort, bei konzertanten Aufführungen prominente Schauspielpersönlichkeiten als Rezitatoren einzuladen – das ist grundsätzlich immer eine Bereicherung und bringt ganz einfach eine zusätzliche Bühnenatmosphäre in die Konzertsituation. Bei Peer Gynt waren dies im Jahr 2016 Cornelius Obonya und Sunnyi Melles (die 2020 wiederkommen wird), und im Vorjahr war es Maria Happel bei Bernsteins Candide. Diesmal setzte also Birgit Minichmayr die Tradition der Gäste aus dem Wiener Burgtheater an der Grazer Oper fort. Sie kehrt ja ab diesem Herbst unter dem neuen Direktor Martin Kušej wieder an das Wiener Burgtheater zurück, wo sie als 22-Jährige ihre Karriere begonnen hatte (siehe dazu ein Interview der letzten Zeit). Minichmayr hatte gerade erst in Graz den Großen Schauspielpreis des Filmfestivals Diagonale für Verdienste um die die österreichische Filmkultur verliehen erhalten. In der Würdigung heißt es u.a.: Die international gefragte Minichmayr gilt nicht bloß unter Kritikern als Konstante, die durch ihr intensives Spiel, ihre gewinnende Aura und ihre unablässige Fokussiertheit mitzureißen vermag. Nicht ohne Grund wird ihr seit jeher das Label „Urgewalt“ umgehängt – eine Zuschreibung, die sich positiv verstanden in mannigfaltigen Auszeichnungen für ihre herausragenden schauspielerischen Leistungen ausdrückt. Und genau das konnte man auch an diesem Abend erleben: mit ihrer charakteristisch-modulationsreichen Stimmfärbung entwirrte Minichmayr engagiert, aber gleichzeitig erfrischend süffisant die über 200 Jahre alten und in Mammutsätzen verschlungenen Texte von Wieland, als wären sie ihr gerade eingefallen. Schon Minichmayr allein machte den konzertanten Abend zu einem veritablen Theatererlebnis!

Aber auch die Gesangssolisten boten respektable bis ausgezeichnete Leistungen. Die Schwedin Gisela Stille war eine Rezia mit strahlender Bühnenpräsenz und prägnanter Textartikulation. Ihr Weg führte sie bisher durch ein auffallend breites Rollenspektrum (u.a. Zerlina, Despina, Pamina, Donna Anna, Lucia, Violetta, Desdemona, Salome, Lulu) – und nun ins Fach des dramatischen Soprans. Gisela Stille hat dafür zweifellos das ausreichende Volumen, die klare Stimmfarbe und die nötige Sicherheit in den dramatischen Spitzentönen. An diesem Abend trübte allerdings leider immer wieder ein deutliches Tremolo die Intonation. Die berühmte Ozean-Arie im 2.Akt bewältigte sie mit Anstand (man verzeihe mir, wenn ich hier eine YouTube-Aufnahme der unerreichten Schwedin Birgit Nilsson einfüge – aber das ist und bleibt bis heute Maßstab!), viel besser, ja wirklich schön und berührend gelang Gisela Stille die lyrische Kavatine Trauere mein Herz im 3.Akt. Die jungen Ensemblemitglieder des Hauses bestanden neben den Gästen ausgezeichnet. Die Fatime von Anna Brull war eine rundum perfekte Besetzung. Sie überzeugte mit klarer Stimmführung und einnehmend-natürlicher Ausstrahlung, die die Bühnenfigur plastisch erstehen ließ. Diese eher hochliegende Mezzopartie lag ihr ausgezeichnet und man kann sich schon erwartungsvoll freuen auf ihren (leider ebenso nur konzertanten) Rosenkavalier-Octavian, der für das Abschiedskonzert der Chefdirigentin Oksana Lyniv im Juni 2020 angekündigt ist.

Als Rosenkavalier-Sophie ist übrigens Tetiana Miyus angekündigt – auch darauf kann man sich freuen. Miyus stand nun erstmals nach ihrer Babypause wieder auf der Bühne und sang die dankbare Szene des Meermädchens im 2. Akt mit warmem Sopran ausdrucksvoll. Chefdirigentin Oksana Lyniv ist derzeit erfreulich präsent in Graz. Sie leitet in der nächsten Zeit hier Tosca, Lucia, Cavalleria/Pagliacci, demnächst ein interessantes Konzert und eben die Oberon-Produktion. Im Programmheft gibt es ein ausführliches Gespräch mit ihr über die Oberon-Musik. Und sie hat ganz Recht, wenn sie sagt: Die Musik lässt im Kopf der Zuhörer sofort Bilder entstehen – egal, ob man „Oberon“ szenisch sieht oder nicht. Seine instrumentale Musik hat das Theatralische in sich, die Musik erzählt und verkörpert die Handlung selbst. Webers Oberon-Musik ist unbestritten ein Meisterwerk – und Lyniv gibt das Werk in jener prächtigen Orchester-Opulenz wieder, die diesem Werk eigen ist. Die Grazer Philharmoniker waren in voller Besetzung auf der Bühne des Opernhauses versammelt und boten eine reife Leistung mit vielen sehr schönen Soli (z.B. Horn, Klarinette, Solovioline,). Auch die groß besetzte Blechbläsergruppe spielt mit warmem und nie zu dominantem Ton. Lyniv versteht es, durch deutliche und präzise Zeichengebung stets für eine ausgewogene Klangbalance zwischen dem Orchester, dem dahinter postierten Chor und Extrachor (von Bernhard Schneider wie immer exzellent vorbereitet) und den an der Rampe versammelten Gesangssolisten zu sorgen. Auch die Piano-Phrasen des Chors wurden an diesem Abend aufmerksam und gebührend zurückhaltend begleitet. Ein orchestraler Höhepunkt waren sicherlich die prächtige Gewittermusik und die breit ausmusizierte Ozean-Arie.

Oberon war der türkisch-österreichische Tenor Ilker Arcayürek, den wir zuletzt in Graz als Lyonel in Martha hören konnten. Ganz vom Liedgesang kommend hat er seinen Part mit präziser Textgestaltung ausgedeutet. Die schön timbrierte, manchmal vielleicht allzu nasal geführte Stimme ist hier im lyrischen deutschen Fach richtig eingesetzt und man kann gespannt sein auf den weiteren Weg dieses Tenors. Sein „dienstbarer Geist“ Puck wird durch Mareike Jankowski verkörpert. Sie ist derzeit Mitglied im Opernstudio und ab nächstem Jahr fix im Ensemble. In ihrer kurzen Szene konnte sie die positiven Eindrücke bestätigen, die sie bereits als Page in Salome und als Lola geliefert hatte. Für die exponierte, durchaus heldentenorale Partie des Hüon hatte man den Koreaner Jason Kim als Gast eingeladen. Er verfügt über eine lyrische, eher schmale Stimme, die technisch sehr sauber und ohne Bruch auch zu metallisch-kräftigen Höhen geführt wird. Die Arie im 1. Akt – Von Jugend auf in dem Kampfgefild – führte Jason Kim an seine Grenzen. Er konsolidierte sich dann im Laufe des Abends sehr schön und bot insgesamt eine seriöse Leistung. Der junge österreichische Bariton Thomas Essl war in der ganz in der Spieloperntradition stehenden Partie des Knappen Sherasmin am rechten Platz.

Die einzelnen Stationen des Werks waren im Hintergrund durch sparsame Videoprojektionen (Christian Weißenberger) adäquat illustriert – da war entsprechend den szenischen Anweisungen im Libretto etwa der Feengarten im Reiche Oberons, in üppig blühender Blumenpracht mit einer Blüte angedeutet, der prächtige Saal im Palast Harun al Raschids in Bagdad mit einem orientalischen Arkadengang. Am Ende sah man gar anstelle des Thronsaals Kaisers Karl des Grossen ein Bild des Doms von Aachen. Geradezu köstlich war bei der berühmten Ozean-Arie eine Meeresgemälde in üppigem Barockrahmen, an den das Papierbild eines riesigen Ozeandampfers geheftet war – ein charmant-augenzwinkernder Gegensatz zum pathetischen Text, den Rezia zu singen hat: Doch was glänzt dort schön und weiß, hebt sich mit der Wellen Heben?…..Nein, kein Vogel ist’s… Heil, es ist ein Boot, ein Schiff!

Und so komme ich an den Anfang meines Berichts zurück:

Die Oper Graz hat mit dieser Produktion die Anregung von Richard Strauss mit einem heutigen Verständnis von lebendiger Museumskultur aufgegriffen und den Weber’schen Oberon mit seinem miserablen Libretto (Zitat des großen Carl Dalhaus) aus der drohenden Vergessenheit herausgeholt – ein derartiges „Opernmuseum“ ist allemal den Aktualisierungsideen so mancher heutiger Regisseure vorzuziehen. Ich war jedenfalls heilfroh, nach den Grazer Produktionen von Martha und Lucia di Lammermoor , die beide im Irrenhaus spielten und nach der eben besuchten Stuttgarter Inszenierung von Iphigénie en Tauride in der Seniorenresidenz den Weber’schen Oberon in einer absolut gültigen Version sehen und die Musik unabgelenkt genießen zu dürfen – und nicht wie im Theater an der Wien im Oberon Experimente fremdbestimmt unter dem Einfluss von Drogen bzw. Rollenspiele in der Psychiatrie (beides hier im OF nachzulesen) erleben zu müssen!

Hermann Becke, 20. 5. 2019

Fotos: Oper Graz, © Oliver Wolf

Hinweise:


Noch eine Aufführung am 23.5.2019 – allen Liebhaber großer deutscher romantischer Oper unbedingt zu empfehlen!


Es lohnt sich, immer wieder einmal in den zitierten Briefwechsel zwischen Richard Strauss und Karl Böhm hinein zuschauen – hier erhältlich