Premiere 4. September 2021, besuchte Vorstellung 19. September 2021
Familie und Gärtnern als bestmöglichstes Glück?
Münster und Westfalen sind weithin bekannt als Orte von Kriminalromanen und -filmen. Es spielen dort aber auch einige wenige Werke des Theaters, am bekanntesten Meyerbeer´s „Prophet“, eine grosse Oper über die Herrschaft der Wiedertäufer im 16. Jahrhundert, mit der etwa Wolfgang Quetes 2004 seine Intendanz begann. Zum Abschluß der Intendanz von Dr. Peters wurde jetzt aufgeführt die „comic operetta“ von Leonard Bernstein „Candide“ mit den Gesangstexten von R. Wilbur, S. Sondheim u.a. Diese beginnt in Westfalen entsprechend der als Vorlage dienenden Novelle aus dem Jahre 1759 „Candide oder der Optimismus“ von Voltaire, der einmal von „la sale province de Westphalie“ (dreckige Provinz Westfalen) spricht, dort im fiktiven Schloß-Thunder-ten-tronckh, das sich dadurch auszeichnete, dass es über ein Tor und Fenster verfügte.
Unter dem Pseudonym Dr. Ralph widerlegt Voltaire in satirischer überspitzter Weise die Lehre des Philosophen Leibniz, weil Gott gut sei, müßte die von ihm erschaffene Welt auch die beste aller möglichen Welten sein.
In besagtem Schloß vertritt Dr. Pangloss die Meinung von Leibniz vor allem gegenüber seinem Zögling Candide, einem nicht ganz so adeligen Neffen des Barons. Als dieser Cunegonde, die eheliche Tochter des Grafen, küssen will, wird er aus dem Schloß vertrieben. Dies wird von bulgarischen Soldaten zerstört (7-jähriger Krieg), Baronin und Baron getötet und Cunegonde vergewaltigt. Von da an wird Candide durch die Welt von einem Unglück zum nächsten getrieben. Vor Lissabon erleidet er zusammen mit Dr. Pangloss Schiffbruch. Als sie an Land schwimmen, werden sie für das Erdbeben verantwortlich gemacht und sollen in einem Autodafé verbrannt werden. Eine Alte mit abenteuerlicher Vergangenheit rettet ihn. Er trifft Cunegonde als Halbweltdame in Paris wieder, flieht mit ihr nach Argentinien,, wo sie vergeblich auf eine Heirat mit dem Gouverneur wartet. Candide kommt zu den Jesuiten nach Paraguay, die die Ureinwohner auch mit Gewalt zum wahren Glauben bekehren, muß wieder fliehen, findet dann Eldorado, das er aber mit viel Gold wieder verläßt, um Cunegonde zu suchen. Auf der Reise verliert er seinen Reichtum bei einem vom Reeder veranlaßten Schiffsuntergang und lernt den Philosophen Martin kennen, einen Pessimisten (das Leben ist schlecht) – also das genaue Gegenteil von Pangloss. Er kommt nach Venedig, wo er alle als betrügerische Glücksspieler wiedertrifft. Sie kommen zu dem Schluß, das Leben so zu nehmen wie es ist.
Die Schauplätze der Handlung und aktuelle Anspielungen darauf wurden in Münster als Programmheft in einer satirischen Ausgabe der örtlichen „Westfälischen Nachrichten“ dargestellt mit Titeln etwa „Inquisitoren stehen vor einem Rätsel“, weil trotz Verbrennung der angeblich Schuldigen das Erdbeben in Lissabon nicht endet, oder dem erneuten Ausbruch der Blattern-Seuche (wird man trotz Quarantäne auf ewig mit der Seuche leben müssen?)
Angekündigt war eine konzertante Aufführung, es wurde weit mehr als das, nicht nur, weil die Mitwirkenden beweglich die Handlung andeuteten. Vielmehr projezierten als Live-Illustration auf eine grosse Leinwand Robert Nippoldt und seine Assistentin Saskia Kunze passend jeweils zur Handlung witzige Schrifttafeln, zeichneten mit Filzstift auf Landkarten die Reiserouten und malten satirische übertriebene Bilder der jeweils Beteiligten. Dies und die von Loriot für eine Aufführung in München verfassten die Handlung erklärenden Zwischentexte, vorgetragen in dessen Manier von Meinhard Zanger, sorgten für gute Laune und Lacher im Publikum.
Musikalisch stellt Bernstein hohe Anforderungen, besonders wenn er grosse europäische Opern karikiert- Cunegonde hat sogar ein wiederkehrendes Leitmotiv. Dies gilt auch und vor allem betreffend Gesang. In der Titelpartie hörte man etwa von Garrie Davislim mit lyrischem gefühlvollem Tenor meditierende Arien über das ach so schöne Leben, besonders eindringlich im ersten Akt die Klage über den vermeintlichen Tod Cunigundes. Davor, im „Liebesduett“ mit Cunegonde „oh, happy we“, in dem beide ihre völlig gegensätzlichen Wünsche an das Leben – Bauernhof oder Luxusleben – ausdrücken, gelangen stimmlich exakt die vertrackten gegensätzlichen Rhythmen. Als Cunegonde überzeugte Marielle Murphy in ihrer grossen Arie „Glitter and be gay“ zwar mit Darstellung der gegensätzlichen Gefühle zwischen Selbstmitleid als ausgehaltener Halbweltdame und ihrer Freude am dadurch möglichen Luxus, aber die heiklen grossen Stimmumfang erfordernden Koloraturen auf der Silbe „ha“ bereiteten Schwierigkeiten und in den Spitzentönen forcierte sie übermässig.
Gregor Dalal als Pangloss zeigte stimmlich alle Facetten dieses Optimisten, vielleicht besonders komisch, als der den Weg des Virus seiner Geschlechtskrankheit durch Generationen und Länder von Männern zu Frauen und umgekehrt bis hin zur Kammerzofe Paquette (quirlig und beweglich singend Kathrin Filip) und ihm selbst vorstellte und als manchmal vorkommenden Preis für Liebesgenuß in Kauf zu nehmen empfahl. Ganz gegenteilig überzeugte er auch als pessimistischer Philosoph Martin.
Als „komische Alte“ erfreute Nana Dzidziguri mit markantem Mezzo, etwa bei „I am easily assimilated“ – als Tango eines der Hits des Stücks – in verschiedenen Sprachen mit der Schilderung ihrer Anpassungsfähigkeit. Mit gut geführtem Bariton überzeugte Jonas Böhm als Cunegondes eingebildeter selbstverliebter Bruder Maximilian. Er sang zudem weitere kleinere Rollen ebenso wie sie Mark Watson Williams und Valmar Saar übernahmen.
Grossen Anteil am Erfolg der Aufführung hatte auch der – Corona-bedingt – links im obersten Rang singende Opernchor einstudiert und dort geleitet von Boris Cepeda. Teils fast ohne teils mit grosser Orchesterbegleitung, etwa als jubelnde Menge beim Autodafé, klappte die Abstimmung mit dem hinten auf der Bühne platzierten Orchester trotz der grossen Entfernung erstaunlich gut.
Aus Bernstein´s „Candide“ ist populär vor allem die Ouvertüre schmissig musikalische Themen vorwegnehmend. Hier brauchte es etwas Zeit, bis das Sinfonieorchester unter Leitung von Stefan Veselka den dazu passenden mitreissenden Schwung hören liess. Danach gelang passend zur Handlung die musikalische Darstellung etwa des Schlachtengetümmels oder des Autodafés mit dem Donner-Motiv aus Wagners „Rheingold“ Ganz grosse musikalische Karikatur erfreute beim Trio der sich langweilenden auf Einhaltung des Eheversprechens wartenden Cunigonde, der Alten und den Zwischenrufen „Ruhig“ (Quiet) des argentinischen Gouverneurs die öde Zwölftonmusik nachahmende Orchesterbegleitung. Überhaupt klappten die teils komplizierten Ensembles gut, als Beispiel etwa das Quartett zu Ende des ersten Aktes.
Resigniert wünschen sich alle Mitwirkenden im Schlußgesang in getragenem C-Dur ein Haus zu bauen und den Garten zu pflegen (make our garden grow), wobei auf der Leinwand Strichzeichnungen von Mama, Papa und Kind zu sehen warem. Auch dieses Idyll wird durch die letzte Bemerkung des Erzählers „Noch Fragen?“ als Utopie entlarvt.
Das corona-bedingt auf Abstand sitzende Publikum – vor allem Gäste eingeladen vom Oberbürgermeister Lewe – spendete reichlich Beifall, auch rhythmisch, am meisten zu Recht für Verfasser und Verfasserin der Live-Zeichnungen.
Sigi Brockmann, 20. September 2021
Fotos (c) Oliver Berg