Premiere 22. Dezember 2018 – besuchte Aufführung 31. Januar 2019
Kurt Weill
Als amerikanische Oper bezeichnete der 1935 in die USA emigrierte Kurt Weill seine musikalische Mischung aus europäischer Oper und Broadway-Musical namens Street Scene auf einen Text von Elmer Rice. Bei uns eher selten aufgeführt, ist Street Scene jetzt am Theater Münster unter der musikalischen Leitung von Stefan Veselka in der Inszenierung von Hendrik Müller zu erleben. Die gesprochenen Texte hörte man in einer teils vulgären deutschen Übertragung von Stefan Troßbach, die von Langston Hughes gedichteten Songs bis auf ganz wenige Ausnahmen trotz Übertiteln ebenfalls auf Deutsch, da wäre die Original-Sprache passender gewesen.
Amerikanisch ist gleich der Schauplatz beider Akte, die Strasse vor einem Multi-Kulti Mietshaus in Manhattan an einem heissen Sommerabend, der folgenden Nacht und dem nächsten Tag. Die Hitze beklagte dann auch gleich zu Beginn ein Ensemble mehrerer Klatschweiber – bei jetzigem Wetter in Münster kaum nachzuvollziehen, wohl auch nicht am Tag der Uraufführung, nämlich im Januar 1947 in einem Broadway-Theater in New York.
Die Bühne von Rifail Ajdarpasic wurde begrenzt links durch einen Verkaufswagen, rechts durch eine Bushaltestelle mit der beleuchteten Überschrift NOTHING – solche überflüssigen geschriebenen Belehrungen des Publikums sind ja heute üblich. Ihren ganz besonderen Reiz erhielt die Aufführung durch den Bühnenhintergrund. Die Fassade des Mietshauses lag auf dem Bühnenboden und wurde durch einen riesigen Spiegel auf die Rückseite projeziert. Wenn Mitwirkende sich jetzt auf den Stegen über dem Bühnenboden oder auf diesem bewegten, erhielt der Zuschauer den Eindruck, sie hingen, kletterten oder tanzten an der Fassade auf und ab und hin und her. Ein bemerkenswerter Blickfang, an den man sich allerdings nach der Pause etwas gewöhnt hatte.
Grosse Gefühle in europäischer Operntradition zeigten in diesem Rahmen die Schicksale der Familie Maurrant, Vater Frank, seiner Frau Anna, ihrer Tochter Rose und deren Verehrer Sam Kaplan. Deshalb gab es für diese im ersten Akt jeweils eine Art Auftrittsarie.
Mit fast schon hochdramatischem Sopran beklagte Kristi Anna Isene als Anna Maurrant ihr trauriges Leben mit ihrem gefühllosen Mann und das Scheitern alle ihrer Jugendträume. Versuch eines Ausbruchs aus diesem tristen Leben war ihr Verhältnis zum Milchmann Sankey, (stumme Rolle Jörn Dummann) über das die Klatschweiber sich mokierten und das ihr brutaler häufig besoffener Ehemann Frank wohl ahnte. Ganz gegensätzlich weich und gefühlvoll klang ihre Stimme, als sie vom Stolz auf ihren jüngeren Sohn Willie (Philipp van Bebber) sang.
Mit gewohnt grosser Bariton-Stimme, aber vielleicht etwas zu wenig Schärfe darin, schilderte Gregor Dalal dessen Lebensauffassung, alles solle wieder wie früher werden, es der fehle der heutigen Jugend an Ordnung und Disziplin, bekannte Behauptungen! Im zweiten Akt ertappte er seine Frau mit dem Milchmann und erschoß sie.auf der Strasse vor dem Haus, wegen des nur projezierten Mietshauses konnte man dieses ja nicht betreten. Ganz entgegengesetzt zu seinem früheren Verhalten bedauerte Frank später in jetzt sehr gefühvollem mitleidigem Legato den Tod seiner Frau, die er doch auf seine Art geliebt hatte.
Mit lyrischem leuchtendem Sopran, wenn passend sehr legato und auch zurückgenommen zum p, träumte Kathrin Filip als Tochter Rose vom besseren Leben und grosser Liebe. Diese erwartete sie zu Recht nicht von ihrem geilen Chef, der ihr gegen die bekannten Gefälligkeiten eine Karriere im Show-Business versprach – den sang mit schleimigem Timbre und spanischem Akzent Juan Sebastián Hurtado Ramirez.
Rose wird verehrt vom Sam Kaplan. Insbesondere mit zarten p- und langen Tenorkantilenen beklagte in dieser Rolle Garrie Davislim als Bücher lesender Aussenseiter seine Einsamkeit inmitten der vielen Nachbarn, als sich diese zur Nacht zurückgezogen hatten. Für seine geliebte Rose ließ er sich von einem anderen ihrer Verehrer sogar verprügeln. Rose tröstete ihn und im Schlußduett des ersten Aktes gestanden sich beide in einem Puccini-ähnlichen Duett ihre Liebe. In einem ähnlichen Duett im zweiten Akt – einem musikalischen Höhepunkt der Aufführung – träumten sie, gemeinsam dem tristen Leben zu entfliehen.
Leider drängte die Regie diese leidenschaftliche Opern-Handlung etwas in den Hintergrund gegenüber den darin verwobenen vielen kurzen heiteren Szenen in amerikanischer Broadway- und Musical – Manier. Dazu trugen alle Bewohner des Hauses und entsprechend viele Mitwirkende bei – ausser den genannten grossen Partien wirkten über zwanzig Sängerinnen und Sänger mit, erstaunlich, daß Münsters Theater die alle aus dem Ensemble besetzen konnte.
Als Beispiele seien genannt etwa der Hausmeister (Filippo Bettoschi), der zwar seinen Auftrittssong auf englisch singen durfte – I got a marble and a star – aber für die Rolle ganz unpassend als Conférencier, etwa ähnlich wie in Cabaret, kostümiert war (Kostüme Katharina Weissenborn).
Der Italiener Lippo Fiorentino spendierte bei der Hitze willkommene italienische Eishörnchen (mit karikiertem italienischem Tenor Pascal Herington), was die Beschenkten zu einem kunstvollem Sextett zum Lob des Speiseeises veranlaßte. Als aufgeregter Ehemann Daniel Buchanan, dessen Frau im Haus gerade eine Tochter gebar, besang Youn-Seong Shim als Clown gekleidet die Nöte des werdenden Vaters. Clownesk gekleidet mit entsprechender Frisur war auch Suzanne McLeod als Schwedin Olga Olsen, die mit mit umgehängtem gewickelten Baby im Trippelschritt über die Bühne tänzelte.
Grossen Eindruck beim Publikum hinterliessen die Musical-Darsteller Kara Kemeny und Jendrik Sigwart als Mae Jones und ihr Freund Dick, die nicht nur englisch singen durften – Moon-faced, starry eyed – sondern auch unglaublich akrobatisch auf der schwierigen Bühne einen schnellen jitterbug unterbrochen durch einen langsamen Blues tanzten. (Choreografie Andrea Danae Kingston) Nach Anna Maurrants Ermordung suchten zwei Kindermädchen mit ihrem Kinderwagen klatschsüchtig nach dem Unglückshaus und sangen für ihr Baby Schlaf Kindchen schlaf unterbrochen von höhnischen Bemerkungen über Ehe- und Familienleben (Melanie Spitau und Christina Holzinger)
Willkommene Abwechslung bereitete der Auftritt des Kinderchors gedrängt hinten auf der Bühne (Einstudierung Claudia Runde), der gegen die herrschende Hoffnungslosigkeit ansang. Wegen Platzmangels auf der engen Bühne mußte der Opernchor einstudiert von Inna Batyuk seitlich im dritten Rang platziert singen, insbesondere einen Trauergesang für Anna Maurrant.
Jetzt wieder ernst machte zum Schluß Rose ihrem geliebten Sam klar, sie müsse nach dem Tod ihrer Mutter und der wahrscheinlichen Hinrichtung ihres Vaters als Mörder ihren weiteren Lebensweg ohne ihn suchen, ließ aber etwas Hoffnung auf besseres Leben durchhören – ergreifendes p – Aber nicht damit endete die Oper, sondern mit dem Klagen der Klatschweiber über die Hitze vom Beginn; alles beim alten im Mietshaus!
Dirigent Stefan Veselka leitete überlegen und umsichtig das musikalische Geschehen und hielt erfolgreich den Kontakt zwischen dem grossen Ensemble auf der Bühne und dem Orchester. Zu Beginn noch etwas zögerlich klingend steigerte es sich sowohl zu Puccini-ähnlichen rauschhaften Klänge als auch teils schräg-jazzig klingenden Tanzrhytmen. Vom Orchesterklang her war das Zwischenspiel zwischen der ersten und zweiten Szene des zweiten Aktes ein musikalischer Höhepunkt. Stellvertretend für andere Soli soll das der ersten Violine gelobt werden. Für die vom Orchester teils melodramatisch begleiteten Dialoge mag die Ausrüstung der Darsteller mit Microports nützlich gewesen sein.
Die für einen verschneiten Winterabend recht zahlreichen Besucher spendeten Zwischenbeifall nach Solo-Arien, nach der grossen Tanzeinlage und Schlußbeifall mit einzelnen Bravos bis zum Schliessen des Vorhangs für diese sowohl Tragik als auch Komik darstellende Aufführung.
Sigi Brockmann 1. Februar 2019
Fotos (c) Oliver Berg