Vorstellung am 23.11.2014 , Premiere am 13.12.2014
Quirlig und einfallsreich
Etliche Theaterverantwortliche an Rhein und Mosel von Trier bis Baden-Baden und von Darmstadt bis Straßburg haben in dieser Spielzeit Offenbach auf dem Programm und schlagen damit zumindest in dieser Region die Wiener und die Berliner Operette und das Musical mit Längen. Über alle diese Produktionen berichten wir auch im Opernfreund: wenn schon das leichte Genre, dann soll es wenigstens Offenbach sein. In Offenbachs großen, bis heute anhaltenden Operettenerfolgen „Orpheus in der Unterwelt“ und „Die schöne Helena“, Travestien aus der griechischen Mythologie, die er mit seinen Librettisten Henri Meilhac und Ludovic Halévy frech umgedeutet hat, verspottet er ungeniert die Gesellschaft und die Größen des zweiten Französischen Kaiserreichs (inkl. des Alleröbersten) anhand antiker Figuren und hielt sich damit die Zensur vom Halse. „La vie parisienne“ griffen die gleichen Autoren aus dem damals real existierenden Leben heraus, und damit mussten sie etwas vorsichtiger umgehen und nahmen mehr das Milieu aufs Korn als Einzeltäter. Den Fantasiefiguren und Gesellschaftstableaus wird eine eher unwichtige Handlung unterlegt, die zur Entstehungszeit spielt (UA 1866), der Zeit der Weltausstellungen, die Paris zum Zentrum der Welt machten und viele ausländische Besucher anzogen. Die kamen nicht nur wegen des angeberischen Prunks der Ausstellungspavillons, sondern auch wegen des anrüchigen „Pariser Lebens“ und um sich mächtig zu amüsieren. Dass die Besucher in der Stadt (wie noch heute) vom kleinsten Café bis in die Vergnügungstempel auch ordentlich ausgenommen wurden versteht sich. Mitverdienen mit Musiktheater wollten auch Offenbach, seine Librettisten und die Theaterveranstalter, die das Werk zur Weltausstellung 1867 in Auftrag gaben. Daher durfte die Gesellschaftskritik nicht spießig oder sektiererisch sein, sondern wurde in ein turbulentes vergnügliches Bühnengeschehen gefasst.
Gare de l’Ouest
Eine Offenbach-Bouffe funktioniert heute nicht mehr, wenn sie Libretto-getreu in ihr traditionelles Umfeld gestellt wird, denn schließlich hat sich in 148 Jahren so viel verändert, dass die originalen Spitzen größtenteils nicht mehr verstanden werden. Also müssen – wie im Kabarett – neue aktuelle gesprochene Dialoge her. Da wird sich ein deutsches Theater (wie jüngst in Kaiserslautern – hier auch mehr zu Hintergrund und Rezeption des Werks und zu seinem Inhalt) schwer tun, wenn es die Handlung nicht auch an einen anderen Ort verlegt, wo deutscher Witz besser hinpasst. In Frankreich funktioniert das besser, und so kann man auch dem flämischen (!) Regisseur Wout Koeken und dem französischen Texter, Schauspieler und Regisseur Benjamin Prins dazu gratulieren, wie sie die Dialoge des Stücks neu gefasst und dabei kabarettistischen Spaß mit gelenkigen Wortspielen verbunden haben. Die funktionieren im Französischen ohnehin immer gut, da in dieser Sprache viele verschiedene Wörter gleich ausgesprochen werden (z.B. descendants – des sans-dents). So bringt man die Lacher schnell auf seine Seite, vor allem wenn man aus dem Bestseller „Merci pour ce moment“ von Valérie Trierweiler zitiert. (Aus dem am zweitmeisten in Frankreich verkauften Buch „Le suicide français“ von Eric Zemmour zitieren indes anständige Künstler nicht, und wie die FAZ in ihrem Feuilleton vom 23.12.14 spitzzüngig berichtet, hat der mit dem Prix Goncourt 2014 ausgezeichnete Roman nur etwa ein Viertel von deren Auflagen erreicht).
Guy de Mey (Frick), Mélanie Boisvert (Gabrielle)
Wo kann eine Operette am besten beginnen, bei der internationale Gäste in Paris eintreffen? Im Jahre 1866 war das klar: am Bahnhof mit seinen Uhren. Der Zeitlauf spielt eine große Rolle im Bühnenbild von Bruno de Lavenère. Der Boden der Drehbühne stellt eine große Uhr dar, auf deren konzentrischen Ringen Menschen und Material in verschiedene Richtungen gedreht werden können. Die prachtvolle historische Bahnhofsuhr im Hintergrund zeigt die Zeit an, wie sie rast, stehenbleibt oder bei verrückten Szenen auch zurücklaufen kann. Der Zug aus Deauville wird mit „etwa“ 148 Jahren Verspätung angekündigt. Dekors und Kostüme umspannen diesen ganzen Zeitraum von der Uraufführung bis heute, wozu auch etliche historische Schwarzweiß-Projektionen beitragen. Das Libretto bestimmte die „Gare de l’Ouest“ (heute Gare de Montparnasse) zum Handlungsort des ersten Akts. Die sehr gelungene detailfreudige Bühne zeigt aber die noch heute als Museum erhaltene 1900 erbaute Gare d’Orsay mit pompösen spätklassizistischen Korbbögen über denen sich eine aus Gusseisen-Maßwerk gebaute Fensterflucht befindet: Zeitalter der Eisenarchitektur. In diesen Fenstern wird durch Projektionen die Umwelt entsprechend der jeweiligen Szenen sichtbar gemacht: Bahnhofshalle oder Salon mit Ausblick über Paris. Ebenso gelungen sind die Kostüme von Carmen van Nyvelseel. Die Hauptakteure stecken in eher nüchterner zeitgemäßer Bekleidung (der Baron von Gondremarck tritt gar auf wie ein gealterter Buchhalter); der Chor hingegen in fantasievollen Kostümen muss sich mehrfach umziehen.
Statt Statisten mischen Bewegungskünstler die Szene auf. Und wenn noch das zwölfköpfige Ballett dazukommt, ist die Bühne mit einem bunten wogenden Völkchen gefüllt. Die Tänzer geben nicht nach dem Motto: „Achtung, jetzt kommt Tanz!“ Balletteinlagen, sondern integriert ins allgemeine Bühnengeschehen verleihen sie diesem mehr Lebhaftigkeit; natürlich sind sie zumeist ganz vorne tätig, damit der Eindruck entsteht, dahinter gehe es genauso turbulent zu. Karikiert bis zum Surrealismus wird das bunt gemischte Personal im Bahnhof im ersten Akt mit immer neuen Überraschungen bewegt. (Choreographie: Philippe Giraudeau). Dabei spielen auch die hundert Koffer eine Rolle, welche die Reisenden mitgebracht haben und aus denen von einer Bahnhofsbank bis zur Tour Eiffel die ulkigsten Requisiten zusammengesetzt werden und im zweiten Akt gar in Gardefeus Salon die Réception der Hotel-Dépendance gebaut wird. Es gibt den ganzen Abend über immer etwas zu sehen – eine rundum gelungene Regiearbeit.
Delphine Haidan (Métella), Christian Tréguier (Baron de Gondremarck)
Gespielt wird die vieraktige Fassung der Operette von 1873. Ebenso wie Offenbachs Satire nicht verletzend, sondern unterhaltsam ist, verhält es sich auch mit der Musik seiner Bouffes. Mit Leichtigkeit und Temperament, aber auch Anklängen von Melancholie will er das Publikum unterhalten und sucht nicht nach sektiererischem Fortschritt. Bis in seine Opern hinein ist seine Musiksprache in Melodie, Harmonik und Rhythmik immer Offenbach und nichts anderes. Diesen Ton muss man treffen. Das gelang Claude Schnitzler am Pult des Orchestre symphonique de Mulhouse im Verlaufe des Abends immer besser. Mit knapp vierzig Musikern trat ein volles Opernorchester an. Nach etwas schwammigem Beginn, schärften sich die Rhythmen im Graben, später auch das Zusammenspiel zwischen Graben und Bühne. Schnitzler wählte zum Teil sehr ehrgeizige Tempi, die er auch noch dramatisch anzog und damit die Artikulationsfähigkeiten der Solisten an eine Grenze brachte, an der sich diese sicherlich an Rossinische Zungenbrecher erinnerten. Kleinere Ungenauigkeiten konnte man aber gut verzeihen, da die Musik im Ganzen Inspiration und Schwung von Offenbach innehatte. Die Partitur, aus der quasi jedes Stück ein bekannter Hinhörer ist, riss mit ihren Quadrillen, Walzern, Polkas und Mazurken und den Couplets mit. Der klangstarke Opernchor (Einstudierung: Sandrine Abello) war auch darstellerisch stark gefordert und in die wogenden Bewegungsbilder einbezogen.
Anaïs Mahikian (Pauline), Mélanie Boisvert (Gabrielle), Delphine Haidan (Métella)
Bei der Auswahl der Solisten hatte man ganz offensichtlich auf die die schauspielerischen genauso wie auf die stimmlichen Talente geachtet. In der Rolle des Raoul de Gardefeu zeigte Guillaume Andrieux nicht enden wollenden Spielwitz und überzeugte mit geschmeidigem, gut verständlichem und klarem Bariton. Melanie Boisvert feierte mit der Soubretten-Rolle der Gabrielle einen blendenden Erfolg, und ließ ihren glockenhellen Sopran bei leichtgängigen Koloraturen bis in höchste Höhen funkeln. Ihr dramaturgisches Pendant, der Stiefelmacher Frick, war mit Guy de Mey besetzt, dessen Äußeres die Regie an einen bekannten deutschen Modemacher mit Pferdeschwanz angenähert hatte und der daher als Hommage an die deutschsprachigen Zuschauer im Saal auch mit deutschen Ausdrücken um sich werfen durfte. Im vierten Akt auch als würdevoller Prosper besetzt gefiel er mit seinem schön geerdeten Tenor. Ein weiterer gut grundierter Tenorbuffo war Thomas Morris als Bobinet, ein komödiantisches Erztalent. Die Métella von Delphine Haidan hatte das rollentypische tiefe Mezzo-Timbre einer Kabarett-Sängerin. Der Bass von Christian Tréguier als Baron de Gondremarck wirkte indes glanzlos. Seine Frau die Baronin war bei Agnieszka Slawinskas hellem klaren Sopran gut aufgehoben. Unter den kleinen Rollen bleibt noch Jean-Gabriel Saint-Martin in den beiden Rollen als Gontran und Urbain mit untadeligem kultiviertem Bariton zu erwähnen. Dem amerikanischen Tenorbuffo Mark van Arsdale konnte man in der Rolle des Brasilianers Pompa di Matadores nachsehen, dass er kein gutes Französisch singt, aber auch gesanglich wirkte er zu eng. Benjamin Prins, der beim Konzept des Stücks mitgewirkt hat, trat auch in den Sprechrollen des Joseph und des Alphonse auf.
Das Publikum zeigte sich höchst zufrieden mit dem Abend, der noch am 26., 27. und 30. Dezember in Straßburg, am 11. Januar in Colmar sowie am 17. und 18. Januar in Mülhausen (La Sinne) zu sehen ist.
Manfred Langer, 25.12.2014
Fotos: Alain Kaiser