Wien: „Salome“

20.1.2020 (Premiere am 18.1.2020)

Nikolaus Habjan gelingt mit seinen Puppen eine neue Sicht

Zu Beginn der Vorstellung wurde Martin Mitterrutzner, der Sänger des Narraboth krankheitsbedingt entschuldigt. Glück im Unglück sowohl für das Ensemble als auch das Publikum aber war es, dass Paul Schweinester, der Sänger des ersten Juden, auch den Part des Narraboth einstudiert hatte, nicht allerdings die komplizierte Bewegungsregie von Nikolaus Habjan. Und so sang er den Narraboth am linken Bühnenrand stehend aus der Partitur, während der Regisseur daselbst in das Kostüm des in Salome verliebten syrischen Hauptmannes schlüpfte und dessen Rolle spielte.

Die dergestalt notwendig gewordene Aufsplitterung der Rolle des Narraboth in einen Sänger und einen Darsteller, in letzterem Fall den Regisseur, stellte einen besonderen Reiz dar und wurde am Ende der Vorstellung vom Publikum auch mit gehörigem Applaus goutiert. Puppenspieler Nikolaus Habjan verdoppelte mit seinen inzwischen zum Markenzeichen gewordenen Klappmaulpuppen in dieser Inszenierung die Titelheldin. In Wahrheit aber trennte er die Figur wie ein Chirurg mit seinem Skalpell in eine reale, sinnliche (die Puppe) und in eine seelische Salome (die Sängerin). Für diese innerlich zerrissene und äußerlich erkennbar gespaltene Salome kann wohl Goethes „Zwei Seelen wohnen, ach! in ihrer Brust“ (frei zitiert nach Faust 1, Vers 1112) herhalten. Gleiches aber gilt wohl für alle Menschen. Sie führen ein privates, echtes Leben, ohne jegliche Verstellung ungeschminkt und maskenlos und auf der anderen Seite ein angepasstes, gesellschaftlichen Normen und Zwängen unterworfenes Berufsleben. Die bühnenbeherrschende Salome-Puppe fungierte zunächst als die reale Salome, die sich ihrer Aufgabe erst nach dem „Tanz der sieben Schleier“ entledigt und ab dann nicht mehr benötigt wird, während sich die „seelische“ Salome, die Sängerin nun völlig emanzipiert hat, indem sie nunmehr Seele und Körper wieder in sich vereinigt und selbstbewusst von ihrem lüsternen Onkel das Haupt des Jochanaan fordern kann.

Bewundernswert wie Marlis Petersen dieses komplizierte Regiekonzept verinnerlicht hat. Apropos Tanz der sieben Schleier. Dieser findet natürlich nicht statt, vielmehr wird Herodes von seiner Nichte sexuell befriedigt, was bereits in der Inszenierung von Guy Joostens am Théâtre Royal de la Monnaie, Brüssel 2012, mit seiner Lolita-artigen Salome angedeutet wurde. Marlis Petersen trägt ein elegantes Volantkleid, welches ihr während des erotischen Tanzes von ihrem Tanzpartner ausgezogen wird und sie in einem durchscheinenden Unterkleid das Finale des Tanzes samt seiner sexuellen Entladung eindrucksvoll gestalten kann. Bei dem mühseligen Tragen der Puppe wurde die Ausnahmekünstlerin fallweise von Narraboth und später von Jochanaan assistiert. Letzterer erscheint ebenfalls in Seele und Körper aufgespalten. Während der aus der Tiefe der Zisterne ausgezehrte Jochanaan als Puppe an den Schmerzensmann erinnert, bleibt die „Seele“ des Jochanaan als grauer Schatten allgegenwärtig. Nach ihrem Schlussgesang kauert Salome an einer Wand und erwartet ihren von Herodes verkündeten Tod, der aber in dieser Inszenierung der Fantasie des Publikums, das ja die Oper ohnehin zur Genüge kennt, überlassen bleibt. Julius Theodor Semmelmann stellte einen Hof mit zentraler Zisterne auf die Bühne und zu beiden Seiten zum Bankettsaal von Herodes hinaufführende Stufen.

Die eleganten Kostüme des Kongolesen Cedric Mpaka sind einer zeitlosen Gegenwart verpflichtet, wobei die Farben Weiß, Grau und Schwarz dominieren. Einzig der Page der Herodias trug eine blaue Uniform wie sie bei Hotelpagen anzutreffen ist. Herodias wiederum trug eine Kleopatra Perücke in Orange, der Farbe der Ausgelassenheit und der Neugier. Marlis Petersen bewies mit ihrer Interpretation der Salome Standvermögen sowohl im Piano als auch im Forte, wenn sie gegen das auf 59 Musiker beiderlei Geschlechts verkleinerte ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter der Leitung von Leo Hussain in der von Eberhard Kloke reduzierten Orchesterfassung anzusingen hatte. Der dänische Bariton Johan Reuter erinnerte als grau geschminkter und grau gekleideter Jochanaan ein wenig an den Commendatore aus Mozarts Don Giovanni. Machtvoll ließ er seinen dunklen Bariton wie ein warnendes Memento hören. Der britische Tenor John Daszak gefiel als furchtsamer König Herodes, dessen Angstausbrüche durchaus schrill sein konnten. Routiniert ohne darstellerische Extravaganzen agierte Michaela Schuster als dessen Gattin Herodias. Der isländische Bariton Kristján Jóhannesson kündigte als blinder erster Nazarener die Ankunft des Herrn an. Geführt wurde er dabei von dem in Sibirien geborenen Ivan Zinoviev als zweitem Nazarener und schlankerem Bariton ausgestattet.

Der Page der Herodias wurde von der russischen Mezzosopranistin Tatiana Kuryatnikova nicht ganz akzentfrei gesungen. Für den erkrankten Narraboth rettete der „Einspringer“ Paul Schweinester die musikalische Seite mehr als nur zufriedenstellend, wofür er gemeinsam mit dem auf der Bühne als Narraboth agierenden Regisseur Nikolaus Habjan mit Applaus geadelt wurde. Darüber hinaus sang und spielte er dann später den ersten Juden. Die übrigen Juden wurden von Johannes Bamberger, Quentin Desgeorges, Andrew Owens und Dumitru Mădărăşan dergestalt interpretiert wie man es gemeinhin für authentisch hält. Allerdings hatte Richard Strauss ihren Bewegungsduktus bereits mitkomponiert. Die ausgeklügelte Bewegungsregie und Choreographie hatte die britische Tänzerin und Choreographin Esther Balfe besonders spannend realisiert. Der Grazer Paul Grilj verantwortete das ausgewogene Lichtdesign. Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle noch daran erinnert, dass Antoine Mariotte (1875-1942), ein Zeitgenosse von Richard Strauss, ebenfalls eine „Salomé“ komponiert hatte, die am 30. Oktober 1908, also nur drei Jahre später als jene von Richard Strauss, am Grand Téâtre de Lyon uraufgeführt wurde. Freilich ist seine Musik mehr der musikalischen Welt von Debussy und einer gelösten Gefühlslandschaft im Stile Maeterlincks verpflichtet…

Und zuletzt schuf noch der 1983 geborene französische Komponist Gérard Massini eine Kammeroper „Salomé“ mit Klavierbegleitung. Beide Werke aber verwenden – im Gegensatz zu Richard Strauss – den Originaltext von Oscar Wilde in französischer Sprache…

Am Ende gab es lediglich für John Daszak einen vereinzelten, meiner Meinung nach völlig unbegründeten, deutlichen Buh-Ruf. Als Star des Abends wurde natürlich Marlis Petersen aufs ausgiebigste mit Applaus bedacht. Aber auch Nikolaus Habjan als derzeitiger „Director in Residence“ kann zufrieden sein, denn die äußerliche Verdoppelung der Figuren mittels Puppen hat bei Salome durchaus zu einem respektablen Ergebnis geführt. Bravo!

Harald Lacina, 21.1.2020

Fotocredits: Werner Kmetitsch