26.4.2019 (Premiere am 16.4.)
Claus Guth präsentierte Ariosts „Rasenden Roland“ zeitgemäß
Das Sujet von Georg Friedrich Händels Dramma per musica in drei Akten „Orlando“ (HWV 31) geht auf das Epos Orlando furioso (1516/1532) von Ludovico Ariosto (1474-1533) zurück, das auch den Stoff für Händels spätere Opern Ariodante und Alcina, beide 1735, lieferte. In diesem Epos werden die Abenteuer des bretonischen Ritters Roland (Hruotland) beschrieben und seine schreckliche Raserei, in die er auf Grund seiner unerwiderten Liebe zu der chinesischen Prinzessin Angelica verfällt. Diese aber liebt den jungen afrikanischen Soldaten Medoro, der in Händels Oper den Rang eines Fürsten bekleidet.
Als unmittelbare Vorlage verwendete Händel jedoch das ältere Opernlibretto „L’Orlando, overo La gelosa pazzia“ von Carlo Sigismondo Capece (1652-1728), welches bereits von Domenico Scarlatti vertont worden war. Neu eingefügt in Händels Libretto wurde die Figur des Magiers Zoroastro, der Orlando von seinem Wahn und der ihn ablenkenden Liebe ganz im Sinne der Vernunft, auf die bereits sein von „Zarathustra“ (italienisch: Sarastro) abgeleiteter Name hinweist, befreit. Geläutert kann Orlando so sein Leben wieder dem Kriegsgott Mars widmen. Bei Ariosto selbst wird Zoroastro nur einmal, und da eher beiläufig, im 31. Gesang Strophe 5 erwähnt. Und auch die Figur der Dorinda ist eine Erfindung von Händels unbekannten Librettisten. Regisseur Claus Guth befreite die Rolandssage aus dem historischen Mantel der Kriegswirren zur Zeit Kaiser Karls des Großen und versetzte das Geschehen um einen traumatisierten, liebestollen Soldaten in ein Mexico der Gegenwart. Darauf weist bereits das Autokennzeichen des sich in einem „taller de reparaciones“ (Werkstatt) befindlichen Sportwagens von Medoro, dem Mechaniker und Lover von Angelica, hin, an welchem sich dieser zu schaffen macht.
Darüber ist Dorinda, die ebendort ihre Imbissstube betreibt, äußerst unglücklich, da sie den attraktiven Medoro gleichfalls begehrt. Diese Autowerkstatt befindet sich in einer Wohnhausanlage, flankiert von einer mit üppigen Pflanzen geschmückten Außentreppe, Palmen und einer Busstation. In dieser stimmigen Ausstattung von Christian Schmidt wütet der aus dem Krieg heimgekehrte Orlando und erinnert natürlich an Sylvester Stallone als John J. Rambo im US-amerikanischen Actionfilm „Rambo I“, der auf dem Roman „First Blood“ von David Morrell (1972) basiert. In seiner schäbigen Wohnung liegen leere Pizzaschachteln und alkoholfreies Dosenbier herum. An der Wand lockern Bilder seiner angebeteten Angelica die Tristesse dieser Behausung etwas auf. Er hantiert mit seinem Maschinengewehr und bedroht jeden, der sich ihm nähert. Alle handelnden Personen, mit Ausnahme des Magiers Zoroastro, sind in Guths perfekt inszeniertem Kammerspiel Gefangene ihrer Gefühle und ein Happy End wird bei diesem „qui pro quo“ nur Angelica und Medoro beschieden. Der Magier Zoroastro ist auch der einzige, der Orlando in seiner Raserei so halbwegs bändigen kann. Nicht nachvollziehbar ist jedoch Guths Teilung der Rolle in einen skrupellosen Soldatenanwerber und einen versoffenen Clochard, der durch die Szene taumelt, seine Notdurft an einer Palme verrichtet und seine große Arie von daher mehr grölen als singen muss.
Florian Boesch gibt in der Aufteilung dieser Rolle in zwei völlig unterschiedliche Charaktere der Inszenierung die dringend erforderliche Situationskomik, denn das ständige Schmachten der übrigen Sängerdarsteller wäre für mehr als drei Stunden Aufführungsdauer wohl nur für die härtest gesottenen Händelliebhaber auszuhalten gewesen. Der französische Countertenor Christophe Dumaux war zuletzt in Händels „Teseo“ im Theater an der Wien zu sehen. Beachtlich war nicht nur seine beeindruckende Körperbeherrschung, wenn er über die Brüstung des Wohnblocks steigt und auf das Dach des Imbisswagens und von dort auf den Boden sprang! Er konnte auch mit dem Vortrag seiner extremen Koloraturen an diesem Abend, trotz seiner eher kleinen Stimme, für Furore sorgen. Seine Raserei geht so weit, dass er sich eine martialische Kriegsbemalung auf den nackten Oberkörper und beide Arme aufträgt. Seinen eigenen Untergang herbeisehnend, übergießt er sich sogar mit Benzin und hält ein Feuerzeug drohend in der Hand, welche Geste dem aufmerksamen Besucher wohl noch aus der Elias-Inszenierung von Calixto Bieito im Theater an der Wien im Februar diesen Jahres bekannt vorkommen mag. Der zweite Countertenor an diesem Abend, Raffaele Pe, ähnelte in der Rolle des Medoro mit seinem attraktiven Äußeren und seiner athletischen Gestalt jener seines französischen Kollegen. Nahezu perfekt und ohne besondere Abstriche erklangen für meinen Geschmack auch seine Koloraturen. Als Objekt der Begierde steht zwischen beiden Männern Anna Prohaska, die in der Rolle der Angelica mondän in schwarz gekleidet ist und sich ständig auf der Flucht vor Orlando befindet.
Mühsam bugsiert sie zu diesem Zweck ihren Trolley in Medoros britischen MG. Sie wirkt in der Darstellung stets intensiv und glaubwürdig und kann kleinere gesangliche Unsicherheiten in der Intonation gut überspielen. Dorinda ist die einzige niedrig geborene Frau im Opernschaffen von Händel, worauf bereits Silke Leopold: Händel. Die Opern. Bärenreiter-Verlag, Kassel 2009, S. 143, zutreffend hingewiesen hat. Giulia Semenzato gibt ihr mit ihrem jugendlichen Sopran und keckem Aussehen, oft Zigaretten rauchend, das nötige Selbstbewusstsein, um nicht völlig von den seelischen Kränkungen des liebestollen Orlando aufgerieben zu werden. Zuletzt war sie im Theater an der Wien im Februar 2018 in Händels „Saul“ zu sehen gewesen. Bernd Purkrabek steuerte eine spannende Lichtregie, die ihren Höhepunkt in dem Schattenspiel des zerrissenen Orlando fand, bei. Rocafilm Videos erstellte noch eine filmische Sequenz des ziellos umhergetriebenen Orlando. Das Barockensemble Il giardino armonico unter der versierten musikalischen Leitung von Giovanni Antonini boten einen warmen, eher weichen Händel-Sound.
Ich hätte mir an manchen Stellen stärkere musikalische Akzente gegenüber dem Alles beherrschenden Bühnenleben der Protagonisten gewünscht. Beachtlich war der große Zuspruch des bis zum Ende der mehr als dreistündigen Aufführung ausgeharrten Teiles des Publikums, das die Produktion, die sängerischen Leistungen und die musikalischen Qualitäten des Orchesters sowie dessen Dirigenten am Ende der Vorstellung ausgiebig und gebührend durch seinen lang anhaltenden Applaus zu würdigen wusste.
Harald Lacina, 28.4.2019