Lübeck: „Madama Butterfly“, Giacomo Puccini

Zwar hat die Welt schon reichlich Inszenierungen von Giacomo Puccinis „Madama Butterfly“ gesehen, aber die tragische Geschichte einer verratenen Liebe vor dem Hintergrund des Aufeinanderprallens zweier Kulturen hat angesichts eines florierenden Sextourismus vor allem in Südostasien beklemmende Aktualität.

Letztlich ist der US-amerikanische Offizier Pinkerton nichts anderes als ein gieriger Sextourist, denn die 15-jährige (!) Cio-Cio-San ist für ihn nur ein gemietetes Spielzeug, das er jederzeit wegwerfen kann. Der Unterschied zu heutigen Phänomenen liegt allein in der Tatsache, daß das minderjährige Mädchen sich der Illusion hingibt, eine glückliche Ehe mit dem, wie er sich selbst und seine Landsleute bezeichnet, „vagabundierenden Yankee“ führen zu können.

(c) Jochen Quast

Das Theater Lübeck hat Ezio Toffoluttis Interpretation des Dramas nach einer umjubelten Premiere am 29. Januar 2022 wiederaufgenommen, mit in den meisten großen Rollen neuer Besetzung.

Passend zur japanischen Ästhetik mit ihrer Liebe zur Reduktion auf das Wesentliche hat sich der Regisseur für ein erklärt sparsames Bühnenbild entschieden, das außer einer halbrunden Apsis und je zwei flankierenden Wänden aus weißen Stoffbahnen vor allem durch eine Art offener Hütte aus einer gefalteten ockerfarbenen Plane geprägt wird. In dieser Origami-artigen Behausung und um das Faltwerk herum findet die ganze Handlung statt, die Kostüme orientieren sich bewußt an traditionellen Vorbildern der Entstehungszeit der Oper, also der Zeit um 1900.

Bei Toffolutti, der hier gleichzeitig als Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner firmiert, steht die Darstellung Cio-Cio-Sans als starker Frau im Mittelpunkt, die am Ende selbständig über ihr Leben entscheidet und diesmal eben nicht Opfer ihrer Gefühle, des Betrugs des egomanen Pinkerton und letztlich ihrer Tradition wird, aufgrund derer Gesetzmäßigkeiten sie nur durch Seppuku, also ehrenrettenden Suizid der Schmach und ihrem eigenen Elend entfliehen kann.

Das ist bereits das Ende des Dramas und von diesem her erschließt sich diese Produktion sowohl inhaltlich als auch vom Bühnenbild. Cio-Cio-San verläßt die Bühne und es bleibt unklar, wohin sie geht. Dann entfaltet sich die Hütte und offenbart das gemalte Bild eines angedeuteten Kopfes mit schwarzen Augen aus Blütensternen und einem Mund, der wie ein ausgerissenes Rosenblatt wirkt. Das ockerfarbene Gesicht mit den angedeuteten hellen Haaren hat sicher den Großteil des Publikums an das blonde Kind aus der unglücklichen Verbindung Cio-Cio-Sans mit dem leichtfertigen Pinkerton denken lassen, aber im Interview mit Toffolutti im Programmheft erklärt der Regisseur, daß es ein Abbild der Protagonistin selbst sein soll, das er vor vielen Jahren gemalt hat. Wer das nicht weiß, mag über dieses Gesicht mit den toten Augen ebenso rätseln wie über die Kugel, die im letzten Akt im Hintergrund liegt, und die ein bißchen an einen Globus gemahnt; vielleicht ist es auch nur ein metaphorischer Spielball.

(c) Jochen Quast

In der Wiederaufnahme gibt die Sopranistin Susanne Serfling die Titelrolle; sie verleiht Cio-Cio-San all die vielfältigen Facetten dieser emotionalen Achterbahn von der mädchenhaften Hoffnung und naiven Begeisterung über ihr geduldiges, treues Warten bis zum tiefsten Schmerz in der Erkenntnis, daß sie letztlich um ihre ganzen Lebensmöglichkeiten betrogen wurde. Die Klarheit ihrer Stimme gibt greifbar die Reinheit von Cio-Cio-Sans Seele wieder, ihre Klangfülle und der grandiose Ausdruck läßt in ihre tiefe Verletzung blicken. Sie spielt diese junge Frau nicht, sie ist sie.

Das gilt auch für die treu an ihrer Seite stehende Dienerin Suzuki, eine echte Freundin in der tiefsten Not, gesungen und gespielt von Laila Salome Fischer. Mit ihrem warmen Mezzosopran verleiht sie der Nebenrolle einen vielschichtigen Charakter; sie teilt die Emotionen ihrer Herrin, was das Drama in der Vermittlung noch verstärkt. Ihre vielfältige Mimik verrät stets, daß sie von Beginn an Zweifel an dem amerikanischen Hallodri hat. Das ist gutes, psychologisches Spiel.

Yoonki Baek war als ruchloser Pinkerton bereits im vergangenen Jahr zu sehen; er hat sich allerdings in Ausdruck und Spiel gesteigert. Der für ihn typische klagende Ton gerade in den Höhen ist einer für die Rolle passenden maskulinen Stärke gewichen und man lernt den nationalistischen Egomanen, der sich nicht um die Gefühle anderer schert, noch mehr hassen – so sympathisch der Tenor auch in Wirklichkeit ist.

Ein Sympathieträger ist in jedem Falle der Konsul Sharpless, verkörpert von Johan Hyunbong Choi, nunmehr als Gast. Der Bariton verleiht der Figur sowohl stimmlich als auch im Spiel überzeugend eine väterliche Güte, die leider aufgrund der schicksalhaften Verstrickung ins Leere läuft.

Das Schöne an dieser Besetzung ist, daß etwaige Vorwürfe kultureller Aneignung verpuffen, denn hier spielen auch Asiaten Amerikaner. Man vergißt das aber schnell, weil die stimmlichen und darstellerischen Leistungen ohnehin umgehend in die reine Wahrnehmung der Rollen leiten – und darauf kommt es in der Oper und im Schauspiel an!

Bereits in der Premiere war Noah Schaul als schmieriger Heiratsvermittler Goro zu sehen. Die Rolle taugt zur karikaturhaften Überzeichnung, aber der Tenor ist mehr als nur ein kriecherischer Clown. Man ahnt, was solche Gestalten in der Kollaboration mit Besatzern vermögen.

(c) Jochen Quast

Leonardo Youngkug Jin als wütender Onkel Bonze, der sich als Hüter der Tradition aufspielt, und Owen Metsileng als unangenehmer Anwärter auf Cio-Cio-Sans Hand haben jeweils nur kurze, aber starke Auftritte. Beide machen in ihrer Präsenz klar, wie schwierig es für die Titelheldin ist, sich gegen soziale Normen durchzusetzen, weil sie allein an ihre Liebe glaubt.

Der Chor unter der Leitung von Jan-Michael Krüger singt gewohnt fein abgestimmt und gerade im deutlich vokal getönten Summchor vermittelt er eine intensive Dichte, die wunderbar zur allmählich blutrot werdenden Sonne im Bühnenhintergrund aus der Lichtregie von Falk Hampel paßt.

Man muß es wirklich zugeben – das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck unter GMD Stefan Vladar spielt noch ergreifender, vielschichtiger, feinsinniger als im vergangenen Jahr. Bereits die Eingangsfuge macht den schnellen Herzschlag Cio-Cio-Sans und die todbringende Dynamik des Schicksals faßbar und im intermezzo sinfonico liegt ohne Worte die leidenschaftliche Liebe, der ganze Seelenschmerz und die Verzweiflung dieser betrogenen zarten Seele. Puccinis Musik geht ohne Umschweife wie ein gut gemischter Drogencocktail direkt ins Herz und das setzen die Lübecker in der ganzen Tragweite dessen, was diese Musik in sich trägt und zu vermitteln vermag, um.

Die Darstellung des Kindes als Puppe funktioniert deshalb so gut, weil diejenigen, die in dieser Produktion das Kind tragen, es schützen und liebkosen, immer glaubhaft vermitteln, sie gingen mit einem echten Kind um.

Allerdings mag man Toffolutti vorwerfen, eben in der Beziehung zu dem Kind seine Interpretation nicht konsequent entwickelt zu haben. Da nun Cio-Cio-San hier so stark ist, daß sie den Suizid nicht begeht, sondern einfach die Szenerie verläßt, wäre folgerichtig gewesen, ihr geliebtes Kind eben nicht einer fremden Amerikanerin zu überlassen, sondern es an sich zu reißen und ihren eigenen Weg zu gehen. Vor der Idee einer modernen, alleinerziehenden Mutter scheute er dann offenbar zurück.

Sei´s drum – die gesangliche und orchestrale Leistung ist umwerfend und so herrscht nach dem Verhallen des gnadenlosen, unaufgelösten Schlußakkords einige Sekunden lang Stille, bevor sich die Begeisterung des Publikums dann in langanhaltendem Applaus mit vielen „Bravo“-Rufen äußert.

Was für ein wundervoller Opernabend, dem man gerne ein größeres Publikum gewünscht hätte!

Andreas Ströbl, 16. Mai 2023


Giacomo Puccini, Madama Butterfly

Theater Lübeck

WA 14. Mai 2023

Musikalische Leitung: Stefan Vladar

Inszenierung: Ezio Toffolutti

Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck