Vorstellung am 6.4.2016
Als Folge des völligen Versagens der belgischen Kulturpolitiker spielt die Staatsoper nun im Zelt!
Wenn Franz Kafka sich für Oper interessiert hätte, hätte er in der belgischen Kulturpolitik den Stoff für gleich mehrere sarkastische Romane gefunden. Denn was sich zurzeit in der belgischen Kulturszene abspielt, kann man nur noch „kafkaesk“ nennen. Die internationale Presse übte in letzter Zeit sehr scharfe Kritik an dem belgischen Staat, dem „failed state“, der völlig versagt hat in der Bekämpfung von Kinderschändung, Islamismus und Terrorismus. Was weniger in den Zeitungen steht, ist das diese folgenschweren Pannen sich auch seit Jahren in der Kulturpolitik abspielen und alle die gleiche Ursache haben: die absolut einzigartige belgische Bürokratie.
Das heimatlose Publikum der Brüsseler Oper am Eingang des neuen Zeltes hinter dem verfallenen Güterbahnhof des ehemaligen Hafens (Foto: Camille Cooken)
Denn Belgien hat die weltweit größte Anzahl an Ministern und Staatssekretären (im Vergleich zur Einwohnerzahl), die den ganzen Tag anscheinend nichts anderes zu tun zu haben als sich gegenseitig zu bekämpfen. In Folge der Radikalisierung der politischen Parteien – im Gegensatz zu dem eher ruhigen und friedlichen Volkscharakter – wurde der Belgische Staat immer mehr zersplittert und völlig entkernt. So hat das kleine Land – weniger als halb so groß wie Österreich – inzwischen schon fünf Regierungen (Belgien, Flandern, Wallonien, Ostbelgien und Brüssel), also fünf vollständige Parlamente & Regierungsapparate. Doch ein zentrales Bildungs- oder Kulturministerium sucht man dort vergebens, denn Bildung und Kultur sind in Belgien heute entweder flämisch, wallonisch, deutschsprachig oder „brüsselerisch“ – aber eben nicht mehr belgisch. Mit der Folge, dass die nationalen Kulturinstitutionen in einem bürokratischen Vakuum gelandet sind, in dem sich niemand mehr für sie verantwortlich fühlt. Mit verheerenden Folgen: Vor drei Jahren musste eine international angelegte Rogier Van der Weyden-Retrospektive kurz nach der Eröffnung geschlossen werden, weil Regenwasser durch die Decken des Museums sickerte und die Sicherheit der kostbaren Bilder aus dem XV. Jahrhundert nicht mehr gewährleistet werden konnte. Andere Räume standen leer, sowie das damals gerade geschlossene Museum für Moderne Kunst, das in ein neues Gebäude umziehen sollte. Doch aus dem Umzug ist nie etwas geworden und die wertvolle Sammlung vergammelt seit Jahren in einem Keller.
Ein ähnliches Vergammeln droht nun der staatlichen Oper in Brüssel: seit zehn Jahren wird über eine „dringende Sanierung“ des Gebäudes diskutiert. Vor sechs Jahren war es endlich soweit. Doch im letzten Moment fehlten anscheinend einige Baugenehmigungen, und die Sanierung wurde um ein Jahr verschoben. Danach wieder um ein Jahr, danach noch ein Jahr etc. Nach fünf Jahren erfolgt nun die Sanierung unter denkbar schlechten Umständen. Denn die ursprünglich vorgesehenen Ausweichstätten für die „extra-muros-Spielzeit“ verweigerten beim fünften Anlauf ihre Mitarbeit, und der Oper blieb nichts anderes übrig als in einem alten Kino zu spielen oder im „Cirque Royal“. Der „königliche Zirkus“ ist ein schlechter Ort für Musik & Oper, aber zumindest ein guter Ort fürs Ballett. Doch dann musste fast das ganze Ballettprogramm annulliert werden, weil der Oper im laufenden Kalenderjahr fast ein Drittel der Subventionen gestrichen wurde. Seit Jahren klagt der IntendantPeter de Caluwe öffentlich darüber, dass er einerseits in der Planung Jahre im Voraus Verträge mit Künstlern unterzeichnen muss, aber andererseits nicht weiß, wie am Jahresende die Subvention der Oper aussehen wird. Über die wird nämlich recht spontan und salopp im Auswärtigen Amt entschieden, im Büro des Ministers Didier Reynders, der mit seinen Mitarbeitern in Sachen Kultur vollkommen inkompetent zu sein scheint. Reynders ernannte vor kurzem einen neuen Direktor des Nationalen Orchesters, mit der Auflage, dieses mit dem Opernorchester zu fusionieren. Doch der Mann musste schon nach wenigen Monaten wieder gehen, da er noch nie in einem Musikbetrieb gearbeitet hatte und durch alle Beteiligten als „völlig inkompetent“ abgestempelt wurde. – Eine Figur für einen Roman von Franz Kafka.
So könnte man einige Bücher über die Oper in Brüssel schreiben. Ein Kapitel ist schon gedruckt: die Saisonbroschüre der laufenden Spielzeit. Im Vorwort schreibt der Intendant: „Schönheit entsteht oft am Rande des Unmöglichen, des Misslingens und der Verzweiflung“. Danach entschuldigt er sich für alles, was folgt mit der Aussage, dass es „sowieso ein kleines Wunder ist, dass wir überhaupt noch spielen“. Die Broschüre sieht äußerlich so aus wie die der anderen Spielzeiten, nur dass viele Seiten grau und nicht schwarz gedruckt sind. Erst nach einer Weile wird einem deutlich, dass alle Veranstaltungen in grau geplant waren, aber in letzter Minute annulliert wurden. Wegen der kurzfristigen Etatkürzung musste die halbe Spielzeit abgesagt werden – das haben wir in dreißig Jahren Opernjournalismus noch nirgendwo auf der ganzen Welt gesehen! Was danach folgte auch nicht: da die Sanierung des Hauses nicht, wie geplant, im März fertig wurde, wurde die Eröffnungsproduktion in ein dafür vorgesehenes Notzelt verlegt. Doch dieses war verschimmelt und da man aus bürokratischen Gründen nicht mehr das Zelt der Oper in Lüttich ausleihen konnte, musste in letzter Minute ein großes, neues Zelt gebaut werden – in dem die Oper nun bis zum Jahresende spielt.
Statt dem Lustspiel von Shakespeare & Berlioz eine neue Fassung, die „die tiefe Auswirkung von Gewalt auf menschliche Beziehungen untersuchen will“
„Hereinspaziert in die Ménagerie!“ – der neue Weg zur belgischen Staatsoper ähnelt dem zu einem Zirkus auf dem Lande. Im ehemaligen Hafengelände steht hinter dem verfallenen Güterbahnhof ein Zelt auf einer matschigen Wiese, auf der vor kurzem noch syrische Migranten hausten und nun bewaffnete Soldaten mit Hunden patrouillieren. Die Atmosphäre ist gespannt, denn die „feierliche Eröffnung des Zeltpalastes“ (Marketingstrategen können jeder Hundehütte noch einen großklingenden Namen geben) fand nur zwei Tage nach dem großen Attentat in Brüssel statt, bei dem viele Verwundete – für die in den staatlichen Krankenhäusern kein Platz mehr war – in ein in sichtweite liegendes Hotel gebracht wurden. Wegen der Sicherheitskontrollen und dem umständlichen Umtauschen der Platzkarten (die ursprünglich für das alte Haus verkauft worden waren) beginnt die Vorstellung mit beachtlicher Verspätung an in einem ungenügend geheizten Zelt. Auf einem Zettel werden wir gewarnt, dass auf der Bühne bewaffnete Soldaten erscheinen werden, weil der Regisseur in seiner Inszenierung „die tiefe Auswirkung von Gewalt auf menschliche Beziehungen untersuchen will“. Das kommt recht unerwartet, denn die Opéra Comique „Béatrice et Bénédict“, nach dem Lustspiel von Shakespeare „Much Ado about Nothing“ („Viel Lärm um Nichts“), ist von Berlioz dramaturgisch und musikalisch deutlich als ein „Liebeskomödie“ angelegt, mit viel Humor und einem „Happy End“. Der Regisseur Richard Brunel hat mit seiner Dramaturgin die gesprochenen Texte umgeschrieben, manche Arien und Szenen vercshoben und eine eigene Fassung aufgestellt, die „weder Shakespeare noch Berlioz folgt“ und wo die „dunklen, tragischen, melancholischen Aspekte des Werkes im Mittelpunkt stehen“. Auch wenn wir mit diesem Regiekonzept absolut nicht einverstanden sind, auch nicht mit dem selbsterfundenen „bad ending“ (das völlig gegen die Musik geht) und wir die hässliche Ausstattung auch nicht weiter beschreiben wollen, muss man dem Regisseur doch Eines lassen: er kann Noten lesen und mit Sängern umgehen. Im Gegensatz zum Vorabend in Antwerpen (siehe Rezension) lief das in unseren Augen unnötige Waffengerassel zumindest zusammen mit der Musik und konnte man dieser ohne all zu große Schwierigkeiten folgen.
Anstatt einer fröhlichen Hochzeit ein schwarze „Soldatenbraut“ (ein Chorist)
Das Opernorchester unter der Leitung von Jérémie Rhorer war die große Überraschung des Abends. Trotz widriger Umstände wurde hier auf hohem Niveau musiziert. Rhorer – in Brüssel kein Unbekannter und schon öfters im Merker lobend erwähnt – dirigierte mit einer großen Frische, Leichtigkeit und Raffinesse und gestaltete liebevoll die vielen musikalischen Besonderheiten der Orchesterpartitur. Denn Berlioz war ein überaus origineller und begabter Instrumentator & Orchestrierer, für den viele neue Blasinstrumente entworfen wurden und der gewagte Kombinationen nicht scheute. So spielen in der Ouvertüre die Posaunen zusammen mit den Geigen, und die große Liebesarie wird nicht durch eine Harfe, sondern durch eine Gitarre begleitet (ein Extralob für den Gitaristen Jona Kesteleyn). Die Sänger (wir hörten die Zweitbesetzung) sangen auf einem durchweg hohen Niveau ihre vielen Ensembles – denn ähnlich wie bei Verdis „Falstaff“ hat Berlioz in seiner letzten Oper kaum Arien komponiert. Aber leider konnte man die Sänger schon in der achten Reihe nicht gut hören (bei der Première hatte man sie mit Mikrophon verstärkt). Michèle Loisier sang sehr schön die (einzige) große Arie der Béatrice, „Il m’en souvient“ und Sophie Karthäuser flogen alle Herzen zu als Héro in ihren Duos „nuit paisible et sereine“ und „vous pleurez, Madame“ zusammen mit der Ursule von Eve-Maud Hubeaux. Doch öfters verhallten die Stimmen in dem großen Zelt, wurden wir abgelenkt durch Geräusche von außen, und wenn ein Flugzeug vorüberflog, hörte man gar nichts mehr. Das Théâtre Royal de la Monnaie war lange ein Wahrzeichen Belgiens, denn hier brach 1830 während einer Vorstellung von Aubers Oper „La Muette de Portici“ die Revolution aus, die zur Unabhängigkeit des Landes führte. Mehr als 150 Jahre hing das Wappen des Königs über dem Bühnenportal und wurden wichtige Staatsempfänge in der Oper gehalten. Das ist lange vorbei. Das Wappen wurde weggehängt, die Königsloge an Sponsoren vermietet und das Haus so lange vernachlässigt, dass man nun in einem Zelt hinter einem verfallenen Güterbahnhof spielen muss. Die für Juni angesetzte Uraufführung von „Frankenstein“, ein Auftragswerk an den Komponisten Mark Grey, wurde nun „auf unbestimmte Zeit verschoben“. Offiziell soll das Opernhaus zum Jahresende wieder öffnen. Doch bis dahin muss der bürokratische Apparat noch einige Baugenehmigungen erteilen, auf die man schon seit Jahren wartet. Einst das Symbol eines reichen Landes – das erste industrialisierte auf dem europäischen Kontinent – ist die Oper in Brüssel nun das Symbol eines „Versagenden Staates“ geworden, der Bildung, Kultur und Symbole im Matsch vergammeln lässt.
Waldemar Kamer 9.4.16
Mit besonderen Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online (Wien)
Fotos: Jean-Louis Fernandez