Die Erzählung „Pique Dame“ gehört nicht zu den beeindruckenden Werken Alexander Puschkins (1799-1837), ist aber wegen ihrer skurrilen Quellenlage mit der Bezugnahme auf eine zur Entstehungszeit der Erzählung noch lebende Person interessant: die Prinzessin Natalja Petrowna Golitsyna (1741-1838) war eine der Trauzeuginnen der Katharina der Großen (1729-1796), erfolgreiche Gutsverwalterin, Botschafterin und vor allem Hofdame. Einem Großneffen, der viel Geld beim Spiel verloren hatte, habe sie das Geheimnis der drei Zauberkarten verraten, so dass dieser tatsächlich sein Vermögen wieder gewann. Böse Zungen behaupteten, sie habe das Geheimnis der „drei-Gewinnkarten“ als Gegenleistung einer Liebesnacht vom Grafen von St. Germain erhalten. Ein Mitglied der Familie Golitsyn habe die Geschichte 1833 Puschkin erzählt, der die Story der Golitsyna mit Elementen des Lebens der Großtante seiner Frau Natalja verquickte. Am Petersburger Hof fielen die Ähnlichkeiten trotzdem auf, was der 93-Jährigen den Spitznamen„Pik-Königin“ einbrachte und die alte Dame höchst amüsiert haben soll.
Im Jahre 1885 erhielt der Dramatiker Modest Tschaikowski (1850-1916) vom kaiserlichen Theater von Sankt Petersburg den Auftrag, nach Puschkins Erzählung das Libretto für eine Oper des künftigen Dirigenten des staatlichen Akademieorchesters Nikolai Klenowski (1857-1915) zu schreiben. Modest verschob die Zeitlinien und nahm wesentliche Änderungen der Personen vor, gestaltete aus der Erzählung Puschkins, die voller selbstzerstörerischer Zwangshandlungen war, eine melodramatische Operntragödie. Wegen dieser eklatanten Abweichungen von der literarischen Vorlage gab es Streit zwischen dem Librettisten und dem Komponisten. Klenowski gab den Opern-Auftrag zurück. Auch der Musikpädagoge Nikolai Solowjow (1846-1916) lehnte eine Vertonung ab, so dass der Text zunächst unverarbeitet blieb. Bis 1890 der Bruder des Librettisten Peter Tschaikowski im Manuskript große Vorzüge zu entdecken glaubte und sich sofort an die Arbeit machte. Er glättete Textstellen, schuf ergänzende Segmente und änderte zwecks Erhöhung der Bühnenwirksamkeit den dramaturgischen Aufbau. Innerhalb vierundvierzig Tagen hatte Peter Tschaikowski den Entwurf der gesamten Oper geschaffen. Zügig erfolgte die Instrumentierung, so dass bereits am 19. Dezember 1890 im Mariinski-Theater die Uraufführung erfolgen konnte.
Der bürgerliche Offizier Hermann ist nicht wohlhabend genug, um die adlige Lisa aus einer Verlobung mit dem Fürsten Jelezkij „herauszukaufen“. Nacht für Nacht versucht er dem Geheimnis des Erfolgs beim Kartenspiels „Pharo“ auf die Spur zu kommen. Als ihm sein Offiziersfreund Tomskij die Geschichte der „Moskauer Venus“ und deren Wissen um die Erfolgskombination erzählte, begann er zu handeln. Statt Lisa zu entführen, bedrängte er die inzwischen neunzigjährige Gräfin derart robust, dass sie stirbt. In einer traumatischen Vision verrät ihm die Verblichene die Gewinnkarten-Kombination „Drei, Sieben, As“. Mit den zwei ersten Karten gewinnt Hermann tatsächlich eine beträchtliche Summe, die er mit dem dritten Spiel ausgerechnet von seinem Rivalen Jelezkij vervielfachen möchte. Als die Karten aufgedeckt wurden, erschien beim Pharo-Spiel auf mysteriöse Weise statt des „As“ die Karte „Pique Dame“.
Diesen überschaubaren Handlungsfaden hatte Peter Tschaikowski mit hochemotionalen psychologisch aufgeladenen Arien und Duetten ausgestattet sowie mit üppigen Chorszenen versehen. Obwohl Tschaikowski mit seinem Libretto die Drastik der Textvorlage Puschkins weitgehend geglättet hatte, versuchte Andreas Dresen mit seiner Regiearbeit ohne großartige Verrenkungen, analog zu seinen Filmarbeiten, die Verhältnisse der Individuen zum gesellschaftlichen Umfeld sichtbar zu machen. Statt eines Erzählstranges rückte er die Bedeutung des Unbewussten und der Obsession der einzelnen Figuren in den Vordergrund.
Das minimalistische Bühnenbild von Mathias Fischer-Dieskau ordnete sich den Anforderungen des geradlinigen Bühnengeschehens kompromisslos unter. Drei übereinander angeordnete Drehbühnen, auf denen klobige Raumteiler standen, erlaubten mit sinnvollen Gegeneinander-Drehungen innerhalb kürzester Zeit Kammerspielräume im Vordergrund aufzubauen und große Spielflächen für die gewaltigen Chorszenen zu errichten oder voneinander abzugrenzen. Zugleich zwang das Abstrakte der Räume den Zuschauer, sich auf jenes zu konzentrieren, was die Protagonisten mit ihrem Gesang von sich preisgaben. Der Besucher wurde regelrecht auf die Musik fixiert, wurde vor allem zum Zuhörer. Die Chöre waren von Michael Tucker mit dem Bühnenbild regelrecht verwachsen worden. Uniformiert in einheitlichem grau, agierten sie statisch. Die Gruppenprozesse bildeten sich musikalisch in den vielgestaltigen Chorszenen ab, die großartig vom Staatsopernchor und vom Kinderchor bewältigt werden. Hier haben Claudia Sebastian-Bertsch und André Kellinghaus Beachtliches geleistet. Aus den Gruppenprozessen entwickelten sich einzelne Charaktere, denen die Regie scharfe Profile verschaffte.
Die Kostüme von Judith Adam orientierten sich am zaristischen Petersburg und teilten die Agierenden ihren Positionen in der Gesellschaft zu.
Musikalisch bewegte sich die Aufführung auf einem außergewöhnlich hohen Niveau. Mikhail Tatarnikov tauchte bei seinem Kapellen-Debüt zusammen mit den Musikern der Staatskapelle in die Erzählung der Gefühlsausbrüche, der lyrischen und mörderischen Momente der emotionsgeladene Musik Tschaikowskis mit höchster Klangqualität ein. Vom Dirigentenpult aus ließ Mikhail Tatarnikov den großen Chor und Orchesterapparat vielfarbig aufblühen. Die Dramatik tönte mit gewaltiger Wucht aus dem Orchestergraben. Besonders die Bläser gaben alles für russischen Opernzauber, Dynamik und spannungsreiche Bögen. Zugleich blieb Tatarnikov mit nüchterner Klarheit der Partitur und der Modernität der Tonsprache Tschaikowskis auf der Spur. Prägnant und kompakt, fern jeder Kitschanfälligkeit wurde musiziert, ohne dass etwas vom Spektrum der hochemotionalen Musik zwischen melancholischem Leid und dramatischer Leidenschaft gefehlt hätte. Nach der drastischen Schluss-Szene gelang Mikhail Tatarnikov das Finale wie ein zart-jenseitiges Requiem.
Die Figur des Ingenieur-Offiziers Hermann, der mit seiner inneren Zerrissenheit zu heldenhaftem Auftrumpfen ebenso fähig war, wie zu verinnerlichten Nuancen, entwickelte Sergey Polyakov mit erstaunlicher Bühnenpräsenz. So lässt man sich, nicht anders als Lisa, am Anfang von ihm blenden und musste im Verlauf mit Beklemmung zusehen, wie er in sein Verderben rennt. Dabei erfreute Sergey Polyakov bei seinem Hausdebüt mit einem robusten, heldenhaften, höhensicheren Tenor und glänzenden Spitzentönen. Bleibt die Frage, wieviel von der Persönlichkeit des Komponisten in der Figur reflektiert worden war.
Auch die von Vida Miknevičiütė selbstbewusst gestaltete Lisa passte mit ihrer Außenseiterrolle nicht ins gesellschaftliche System. Sie verband das Mädchenhafte ihrer Erscheinung passend mit der Weiträumigkeit ihrer geschmeidigen Stimme. Voller Fülle ließ Vida Miknevičiütė im Liebesduett mit Hermann ihren Sopran golden glänzen, spielte und sang aber auch Lisas Wut samt rasender Verzweiflung mit großem dramatischem Sopran. Ihre Spitzentöne waren von enormer Durchschlagskraft. Folgerichtig stürzt sie sich nicht, wie von Tschaikowski vorgesehen, in den Newa-Fluss. Sie nahm den Fluchtkoffer, hielt sich bereit und kann im Schlussbild nicht verhindern, dass sich der Geliebte erschießt.
Für die Partie der Gräfin war Evelyn Herlitzius mit ihrer enormen Bühnenpräsenz verpflichtet worden. Mit der Aura einer unnahbaren geheimnisvollen Gräfin beherrschte sie die Szene beliebig. Oft waren es nur Blicke und kleine Gesten die sie wirksam einsetzte. Ihre wandlungsfähige Stimme und ihr bestechendes Timing ließen besonders das Morbide ihres Charakters lebendig werden. Mit der großen Arie im vierten Bild gewährleistete sie ausdrucksstärkstes Musiktheater. Bewegend das kleine französische Lied im zweiten Akt, das sie gedankenverloren beim Übergang zum Schlaf sang. Diabolisch trat sie als Geist auf, verriet Hermann das Geheimnis der „Karten“ und stachelte ihn an, in sein Verderben zu rennen.
John Lundgren begeisterte als Graf Tomski mit kräftigem Bariton und ließ seine Erzählung im ersten Akt von der „Moskauer Venus“ und vom Geheimnis der drei Karten zu musikalischen Höhepunkten aufrücken. Auch mit seinem klangvollen Vogelast-Lied im Schlussbild baute er zart und leise die Erzählung am Ende aus. Im Anbetracht seiner Leistungen, hielt ich es nicht für erforderlich, dass er sich ansagen ließ.
Christoph Pohl stattete den Fürsten Jelezkij mit dunklem Bariton aus. Für einen Mann des 19. Jahrhunderts reagierte er merkwürdig verständnisvoll und zeigte balsamische Wärme in seiner hingebungsvollen Entsagungsarie, lieferte dafür massives Metall im Kartenduell. Die Mezzosopranistin vom Hausensemble Michal Doron bestach als Paulina im Duett mit Lisa und einem Russischen Volkslied. Mit ihrer strahlenden tiefgoldenen Stimme glänzte sie im Duett. Im Lied klang sie warm, nuancenreich und erschütternd reif. Von den Offizierskollegen Hermanns agierten der Bariton Martin-Jan Nijhof als ein nachdrücklicher Surin und der Tenor Aaron Pegram als markanter Čekalinskij. Aaron Pegram war noch als Zeremonienmeister aktiv. Am Spieltisch waren Simeon Esper als Spieler Čaplitzkij und Rupert Grössinger als Spieler Narumof tätig, um den Hermann endgültig zu ruinieren. Nicht vergessen werden sollten die Auftritte der Mezzosopranistin Nicole Chirka als Gouvernante und der Ofeliya Pogosyan als Mascha in der dritten Szene des ersten Aktes.
Fast überflüssig zu erwähnen, dass die moderne und schlüssige Inszenierung und das musikalisch Gebotene von den Besuchern mit ausgiebigen Ovationen gewürdigt wurden.
Thomas Thielemann, 2. Juli 2023
Pique Dame
Peter Tschaikowski
Semperoper Dresden
Besuchte Premiere am 1. Juli 2023
Inszenierung: Andreas Dresen
Regie: Frauke Meyer
Musikalische Leitung: Mikhail Tatarnikov
Sächsische Staatskapelle Dresden
Chor: André Kellinghaus
Sächsischer Staatsopernchor
Kinderchor: Claudia Sebastian-Bertsch
Kinderchor der Sächsischen Staatskapelle