Das Gustav-Mahler-Jugendorchester ist seit Jahren für die Karriere-Entwicklung vieler junger Orchestermusiker eine wichtige Station. Wer es schafft, sich im jährlichen Auswahlverfahren gegen etwa 1500 Bewerber zu behaupten, kann sich der Aufmerksamkeit von Orchesterdirektoren mit Vakanzen sicher sein. In jedem Jahr formiert ein Spitzen-Dirigent aus den Geeignetsten der Bewerber das „Gustav-Mahler-Jugendorchester des Jahres“, studiert mit ihm ein professionelles Konzertprogramm ein und begleitet es auf einer Tournee. Dank eines Partnervertrags mit der Sächsischen Staatskapelle eröffnet seit dem Jahre 2012 wenige Tage vor dem Spielbeginn der „Dresdner“ das Mahler-Jugendorchester mit seinem Gastspiel die örtliche Konzertsaison.
In diesem Jahr hatte der aus Tschechien stammende Dirigent Jakub Hrůša übernommen, mit den jungen Musikern in der Residenz „Teatro Verdi in Pordenone“ Gustav Mahlers letzte vollendete Symphonie Nr. 9 zu gestalten. Offenbar ist Hrůša das Wagnis bewusst eingegangen, mit nahezu Anfängern der Orchester-Praxis ausgerechnet jene Mahler-Symphonie einzustudieren, die selbst erfahrenen Praktikern Probleme machen kann. Bekanntlich ist die „Neunte“ ein Werk des Abschieds, mit dem Mahler fast leidenschaftslos und mit geistiger Kühle die Schönheiten seiner Komposition ausbreitete. Seine humanistischen Anliegen hatte Mahler bereits zur Seite gelegt.
Uns ist aber Jakub Hrůša als ein Musiker bekannt, der auch schwierige Aufgaben beherzt angeht. Er versuchte den Knoten zu lösen, indem er den ersten Satz zunächst mit ruhigem Atem begann, dann die Dynamik des jungen Orchesters plötzlich heftig aufbäumen ließ, um seinen Klang umgehend zu verdüstern. Und eh man es erwartete, ließ er das Ensemble fast schmerzlich singen. Da vermied Hrůša, Stimmungen oder Zerrissenheiten zu glätten, um den jungen Musikern vom Beginn an seine Freude an Mahlers sarkastischen Kunstgriffen zu vermitteln. Er verdeutlichte die Situation seines böhmischen Landsmanns, der ausgezogen war, gegenüber der verdorbenen Welt eine symphonische Gegenwelt aufzubauen, aber seine Grenzen fand. So wie Mahler nichts schönte, so unterließ auch Hrůša das Polieren.
Die Herangehensweise von Jakub Hrůša an die nicht unproblematische Kombination des jungen Orchesters mit Mahlers „Neunter“ war vielleicht extrem und uneinheitlich, aber dennoch nachvollziehbar und sicherlich mutig. Sein Wagnis, die Grenzen der Möglichkeiten des Orchesters mit den daraus resultierenden Risiken auszuloten, verdient allen Respekt. Die Verdeutlichung aller Phrasen, die Betonung jedes Stilelements und die Akzentuierung ihrer Kontraste, Deformationen oder Feinheiten sicherten eine denkwürdige Interpretation des Mahler-Jugendorchesters.
Das Orchester war wie in jedem Jahr neu besetzt, aber wie von Jahr zu Jahr in der Dichte und Wärme seines Klangs immer großartig, vital, dabei immer hochkonzentriert und in der Musik versunken. Wenn es ein Orchester gibt, bei dem wir zwischen so vielen Höhen und doch weniger gelungenen Tönen noch nie einen einzigen Takt gehört haben, der nach Routine riecht, dann ist es das Mahler Jugendorchester. Im dritten Satz der 9. Symphonie Mahlers, dem „Rondo Burleske“, wurden die Zuhörer in einen wahren Strudel aus Tönen und Klängen geworfen.
Versöhnend wuchsen Hrůša und das Orchester über sich hinaus, als der Dirigent im abschließenden Adagio den Streichern regelrecht die Seele aus dem Leib zog und, eingebettet von einer sphärischen Antwort des Solohornisten, sie zu einem herzzerreißenden Abschluss formte.
Das nicht völlig ausverkaufte Auditorium feierte die Leistung des Orchesters. Der nicht zu stoppende Zwischen-Satz-Beifall dürfte in der Ticket-Aktion zur Auffüllung des Parketts seine Ursache finden. Das war nicht schlimm, auch wenn das Orchester offenbar irritiert war. Aber es wäre trotzdem den Veranstaltern zu empfehlen, so wie Aufsteller an den Aufgängen zur Abgabe der Rucksäcke und Jacken an den Garderoben auffordern, den Neu-Besuchern einen diskreten Hinweis zu geben.
Thomas Thielemann, 24. August 2023
Konzertsaal im Kulturpalast Dresden
22. August 2023
Gustav Mahler: Symphonie Nr. 9
Gustav-Mahler-Jugendorchester
Dirigent: Jakub Hrůša