Schon wieder ein leerer Raum mit Wänden aus hellem Holz! Und schon wieder dieser Stil-Misch-Masch bei den Kostümen, die sich nicht entscheiden wollen, zu welcher Epoche sie gehören! Diese Gedanken gehen einem durch den Kopf, wenn man zu den forschen ersten Tönen aus dem Orchestergraben auf die Bühne blickt. Gerade will man die Arme vor der Brust verschränken und mit einem Stoßseufzer die alte Inszenierung zurückwünschen, da erfordert das zunächst noch stumme Treiben aller Protagonisten auf der Bühne die volle Aufmerksamkeit. Wenn Figaro dann mit seiner Auftrittsarie loslegt, ist man bereits im Flow dieser Inszenierung.
Tilmann Köhler hat schon in zahlreichen Frankfurter Regiearbeiten gezeigt, daß er seine Figuren zu führen und zu individualisieren weiß. Das gelingt ihm nun in „Le nozze di Figaro“ mit scheinbar müheloser Leichtigkeit. Mimik, Gestik und Bewegungsabläufe sind in einem Maße detailliert ausgefeilt, daß bei künftigen Wiederaufnahmenahmen die Regieassistenten alle Hände voll zu tun haben werden. Die Übergänge der Rezitative zu den Arien und Ensembles werden mit großer Natürlichkeit und in perfektem Timing gestaltet. Dabei erweist sich der helle Holzkasten mit seinen bühnenhohen, um die eigene Achse drehbaren, lamellenartigen Elementen (Karoly Risz) als durchaus adäquater Spielort für die schnellen Auf- und Abtritte, die Da Pontes Libretto fordert. Allerdings hat auch Joachim Kleins geschickte Lichtregie Mühe damit, den Wechsel der Tageszeiten in dem fensterlosen Kasten hinreichend deutlich zu imaginieren. Nur andeutungsweise wird dem Publikum gewahr, was Regisseur Köhler und Dirigent Thomas Guggeis im Programmheft hervorheben: daß nämlich der erste Akt am Morgen des „tollen Tages“, der zweite am Mittag, der dritte am Abend und der vierte in der Nacht spielen. Die Versteckspiele des vierten Aktes funktionieren jedenfalls mit den drehbaren Wandelementen ebenso gut wie mit Sträuchern und Büschen in konventionellen Inszenierungen. Für den zweiten Akt, der abschließbare Türen verlangt, geht die Produktion originell in die Horizontale und setzt Bodenklappen ein.
Für seine erste Premiere als Generalmusikdirektor hat die Intendanz Thomas Guggeis ein geradezu ideales Mozart-Ensemble zusammengestellt, bei dem sich musikalisches Können und Spielfreude ideal ergänzen. Das fängt bei Kihwan Sim als Figaro an. Vor elf Jahren hatten wir geschrieben: „Für Kihwan Sim ist dies eine Paraderolle. … Souverän und locker ist sein Spiel. Die virile Stimme ruht auf einer dunkel grundierten Basis und ist in allen Registern bis zur gesunden Höhe bestens durchgeformt. Sie besitzt Kraft, hat ein angenehmes Timbre und ist dazu noch ungeheuer beweglich. … Von diesem Sänger darf man noch viel erwarten.“ Er hat die seinerzeitigen Erwartungen nicht enttäuscht und zählt inzwischen zu den Stützen des Frankfurter Ensembles. Längst hat er sich ein breites Repertoire erarbeitet, das inzwischen auch gewichtige Baßpartien umfaßt. So ist er in dieser Spielzeit unter anderem als Sarastro in der Zauberflöte und König bzw. Ramfis in Aida besetzt. Gleichwohl paßt ihm der Figaro noch immer wie angegossen, hat seine Stimme in den vergangenen Jahren zwar an Gewicht und Schwärze gewonnen, gleichwohl nichts von ihrer Beweglichkeit und Höhensicherheit verloren.
Seine Braut Susanna gibt das neue Ensemblemitglied Elena Villalón quirlig und selbstbewußt mit glockenhellem Sopran. Danylo Matviienkos Graf wird von der Regie in seiner Machohaftigkeit besonders unsympathisch gezeichnet. Der junge Bariton spielt das durchaus lustvoll aus. Seine an sich kernig-virile Stimme erscheint im Kontrast zu Kihwan Sims klangsattem Figaro zunächst ungewohnt hell. Die einzige ihm vom Libretto vergönnte Arie im dritten Akt gestaltet er dann aber souverän und gewinnt damit für den weiteren Verlauf auch stimmlich an Profil. Kelsey Lauritano mischt ihrem frischen Mezzo für den Cherubino passend burschikose Farben bei. Cecilia Hall bringt ihre warm timbrierte Stimme bei der Marcellina derart vorteilhaft zur Geltung, daß sie gar nicht dem Klischee der alten Jungfer entspricht, sondern als Konkurrenz für Susanna ernsthaft in Betracht zu kommen scheint. Das verleiht ihrem Zickenkrieg („Via, resti servita, Madama brillante“) eine ungewohnte Plausibilität. Magnus Dietrich ist mit idealem Mozart-Tenor, der Vorfreude auf den Tamino und den Belmonte im nächsten Jahr weckt, eine Luxusbesetzung als Basilio und Don Curzio. Das gilt auch für Karolina Bengtssons Barberina. Franz Mayer ist aus dem Ruhestand zurückgekehrt und gibt seinen vielfach bewährten Gärtner Antonio. Als einer der beiden Gastsänger ergänzt Donato Di Stefano in der Buffo-Partie des Bartolo das vorzügliche Ensemble. Die andere Gastsängerin ist Adriana Gonzáles, die als Gräfin gerade erst bei den Salzburger Festspielen für internationale Aufmerksamkeit gesorgt hat. Dabei ist sie in dieser Rolle eigentlich eine Frankfurter Entdeckung. Vor drei Jahren, mitten in der Pandemie, war sie einer der Glanzpunkte in einer gekürzten und corona-gerecht arrangierten Figaro-Fassung. Damals haben wir von ihren „schwebenden Piani und einem edel schimmernden Ton“ geschwärmt und festgestellt: „Genau so sollte eine Gräfin klingen.“ Dieser Eindruck hat sich in der aktuellen Produktion verfestigt.
Zu den feinen Pianostellen der jungen Sängerin dimmt Thomas Guggeis den Klang im Orchestergraben zurück. Ansonsten hat man schon lange nicht mehr einen derart vollmundigen Figaro-Sound gehört. Der Ansatz des neuen Generalmusikdirektors, der auch die Rezitative am Hammerklavier phantasievoll selbst begleitet, kann als im besten Sinne undogmatisch bezeichnet werden. Die Tempi sind rasch, mitunter sehr rasch, so daß man das Orchester bereits dafür bewundern muß, wie souverän und virtuos es die Vorstellungen des neuen Chefs umsetzt. Von den Errungenschaften der historisch informierten Aufführungspraxis hat man insbesondere den sparsam dosierten Einsatz des Vibratos bei den Streichern und den Einsatz harter Schlegel bei den Pauken übernommen. Besondere Aufmerksamkeit widmet Guggeis den Holzbläsern. Da gibt es keine dahingespielte Note, kein bloßes Kolorieren der Harmonien. Man meint, vieles im Orchestersatz zum ersten Mal zu hören. Das Orchester wird somit mehr als gewohnt zum weiteren Protagonisten. Die Interaktion mit der Bühne gelingt bruchlos. Abgerundet wird dies durch den wie gewohnt agilen Chor. Das Entfalten des gesamten Reichtums dieser genialen Partitur und das Herausarbeiten kostbarer Details, ohne dabei je den Blick auf den Zusammenhang zu verlieren, trägt neben den ausgezeichneten sängerischen und darstellerischen Leistungen dazu bei, daß in knapp drei Stunden reiner Aufführungsdauer keine Minute Leerlauf entsteht.
Mit diesem neuen Figaro ist der Oper Frankfurt der Start in die neue Saison geradezu perfekt gelungen: Ein ideales Sängerensemble agiert mit ansteckender Spielfreude in einer lebendigen Inszenierung und wird dabei aus dem Orchestergraben kongenial von hochmotivierten Musikern unterstützt.
Michael Demel, 14. Oktober 2023
Le nozze di Figaro
Oper in vier Akten von Wolfgang Amadeus Mozart
Oper Frankfurt
Premiere am 1. Oktober 2023
Besuchte Vorstellung am 6. Oktober 2023
Inszenierung: Tilmann Köhler
Musikalische Leitung: Thomas Guggeis
Frankfurter Opern- und Museumsorchester