Eine Ouvertüre, die so leichtfüßig zart und innig beginnt, an Fahrt gewinnt und wohlig walzerselige Gefühle weckt, gehört zum Operettenstandard, mischten sich da nicht die Farben ein, die alles in Rot, mal in Blau, Grün und Rosa tauchen und eine eigene Choreographie in Konkurrenz zum Orchester aufführen. Das Kind im Zuschauer erwacht und es bestaunt die Lichteffekte wie ein unverhofftes Feuerwerk. Vielleicht hätte Johann Strauss geschimpft, weil das ja ablenkt. Dabei ist das nur der Vorspann für eine Inszenierung, die jeder ihrer Szenen eine besondere Farbkomposition verpasst.
Hebt sich der Vorhang zum 1. Akt, hat die „Generation Einhorn“ ihre helle Freude. Im Schlafzimmer, ganz in Pink, Rosa, Rot und Lila, räumt Stubenmädchen Adele sichtlich angeekelt die Hinterlassenschaften ihrer Herrschaften auf. Dabei findet sie ihre Einladung zu einem Maskenball bei Prinz Orlofsky. Wow! Rosalinde, ihre Chefin, erwacht von den Rufen ihres Exliebhabers Alfred und wittert die Chance auf ein amouröses Abenteuer. Denn ihr Gatte, Gabriel Eisenstein, soll wegen Beamtenbeleidigung für eine Woche in den Knast. Als er plötzlich, ganz in Lila, mit seinem Winkeladvokaten Dr. Blind auftaucht, versteckt sich der Nebenbuhler. Der andere tobt, weil er tatsächlich ins Gefängnis muss und soll sich selbst stellen. Da erscheint Dr. Falke, sein Notar, im smarten rosa Outfit und überredet ihn schnell, stattdessen auf den Maskenball des Prinzen zu gehen, wo es jede Menge „Ratten“, sprich junge Mädchen, gibt. Ganz in Weiß mit Pelz und Rollkoffer verabschiedet er sich von der Gattin, die ein paar Abschiedstränen verdrückt. Kaum ist er weg, hat Alfred freie Bahn und äußert schon Frühstückswünsche, wird aber irrtümlich vom Gefängnisdirektor und seinen Beamten zum Haftantritt abgeholt.
Im 2. Akt ist Showtime, der Maskenball beim Prinzen Orlofsky, der Dr. Falke völlig freie Hand lässt, alles zu arrangieren. Er möchte, übersättigt und gelangweilt, nur eines: endlich wieder einmal lachen. Der „Arrangeur“ indes hat nur eines im Sinn: späte Rache an Eisenstein, der ihn einst besoffen im Fledermauskostüm dem Gespött aller ausgesetzt hat. Die Szenerie wirkt schrill und magisch zugleich: Ein verwunschener Garten, symbolisiert durch grüne Gebilde, die von der Decke hängen, ein riesiges beleuchtetes Spinnennetz und ein monumentaler Kronleuchter sind Kulisse für die Party, auf der Champagner und Wodka in Strömen fließen, die mit Ballermannhits(!) beginnt und in einem totalen Besäufnis endet.
Dr. Falke im schwarzen Glitzersmoking, diabolisch, maliziös, hat eine illustre Gesellschaft in schillernden Kostümen zusammengestellt: Männer in Frauenkostümen, Frauen im Anzug. Ein Spiegel dieser Gesellschaft: Mehr und anders scheinen als sein? Fast wirken die Figuren statisch, aber überdeutliches Minenspiel und rätselhaftes Treiben passen zum Szenario. Ida und ihre Schwester Adele sind da ganz anders. Laut, frech, provokant und quirlig versuchen sie, sich ein großes Stück vom Kuchen der „feinen Gesellschaft“ zu holen. Sie gibt sich als Künstlerin Olga aus, umgarnt den Gefängnisdirektor und hofft auf seine Unterstützung. Auch Rosalinde ist geladen und erscheint als ungarische Gräfin, die mit einem brillanten Csárdás alle fasziniert, besonders ihren Mann, dem sie eine Uhr abluchst, die sie später als Beweis seiner Untreue verwendet. Als schlussendlich alle am Boden liegen, sturzbetrunken, die Mäuse tanzen, endet der zweite Akt.
Der 3. Akt beginnt im Gefängnis. Der Wärter Frosch, daueralkoholisert, kalauert über aktuelle Missstände in allen Bereichen, das marode Gefängnis, die komplizierten Wärmepumpen, eben geliefert durch Amazon, die Landespolitik und so weiter. Ein Spruch übertrifft an Blödheit und Banalität den anderen. Muss das sein? Ist das der Tribut an die TV-Gesellschaft, die „RTL & Co.“-Konsumenten, die ohne große Ansprüche einfach nur Unterhaltung und Spaß suchen, am besten auf Kosten der anderen? Vielen gefiels, aber nicht allen. Hier kommt es langsam zum Showdown, wenn der noch betrunkene Gefängnisdirektor in peinlicher Verkleidung eintrudelt, Adele von ihm die versprochene Ausbildung zur Künstlerin für ihre „Dienste“ einfordert und Rosalinde auf Alfred trifft. Eisenstein verkleidet sich als Advokat, um Rosalinde der Untreue zu überführen, die aber schnell den Spieß umdreht. Dr. Falke, die Fledermaus, klärt die ganze Maskerade auf und am Ende schiebt man sämtliche unerfreulichen Ereignisse auf den Champagnerrausch. Alle finden sich auf der Bühne ein und vom Himmel schwebt die „Fledermaus“.
Man merkt, dass Cornelia Kraske und Stefan Brandtmayr ein bewährtes Team sind, denn Kostüme und Bühnenbild zeigen eine reizvolle Harmonie und stehen in ihrem Kosmos fast in Konkurrenz zur Musik. Hier ist nichts uniform oder normal, sondern schillernd und schräg, grell sinnfällig und fesselnd. Niemand möchte in dieser Operette öden Purismus und so waren die Meininger Werkstätten wohl im Dauerstress, um all die ausgefallenen und witzigen Details umzusetzen.
Allen Akteuren machte es offensichtlich einen Heidenspaß, sämtliche Rollen nach Herzenslust bzw. nach Regieanweisung zu übertreiben, zu verulken und grotesk zu überzeichnen. Johannes Mooser schlüpft als Rentier Gabriel Eisenstein wieder in eine Paraderolle. Stimmlich und körperlich raumfüllend ist seine Bühnenpräsenz unübertroffen. In jeder Phase dieses ereignisreichen Tages spielt er mal den Wütenden, der ins Gefängnis soll, den liebenden Gatten, den peinlichen Lustmolch und albernen Partygast, der sich von jedem vorführen lässt. Seine großartige Stimme tönt klar und artikuliert bis in den dritten Rang.
Emma McNairy, als seine Gattin Rosalinde, groß, schlank und rassig, gibt sich mondän als „Gnädige“ oder später als geheimnisvolle ungarische Gräfin. Sie hat die Allüren ihres Mannes satt und ihren großen Auftritt in broadwaytauglicher roter Robe auf dem Maskenball, wenn sie mit dem Csárdás „Klänge der Heimat“ jeden zum Staunen bringt. Auch am Ende ist sie grandios, wenn sie im Terzett Gabriels Verlogenheit und Treulosigkeit schmerzvoll und angewidert besingt.
Fenja Lucas, die im letzten Augenblick für die erkrankte Monika Reinhard einsprang, darf sich als Stubenmädchen Adele und später als Künstlerin Olga kompromisslos austoben und hüpft temperamentvoll und quietschlebendig durchs Geschehen. Sie ist die eigentliche Hauptperson, die das bekommt, was sie sich in den Kopf setzt. Singt sie anfangs noch etwas verhalten und undeutlich, gewinnt sie schnell an Sicherheit und bleibt bis zum Schluss ein Turbo auf der Bühne. Mit Dorothea Böhm als ihre Schwester Ida, die ihr in Überschwang und an Schrillheit in nichts nachsteht, ergeben die beiden optisch, schauspielerisch und stimmlich ein verrücktes Gespann. Johannes Schwarz als Gefängnisdirektor Frank mimt sehr augenfällig den einfältigen Vollzugsbeamten, der sich nur zu gerne etwas „gönnen“ lässt. Auf dem Maskenball erscheint er im unvorteilhaft aufgeplusterten Harlekins Kostüm und ist ein perfektes Opfer für Adeles Karrierepläne. Auch wenn er im Reigen der Gesellschaft zu dem Nullen zählt, sind sein Auftreten und seine Stimme unübersehbar- und unüberhörbar stark. Marianne Schechtel passt in die Hosenrolle Prinz Orlofskys, steckt in silbernen Stiefeln, plüschigen weißen Shorts und einem blauen Uniform Jäckchen. Die starre Maske vor dem Gesicht wirkt fast marionettenhaft, doch zeigen aristokratische Haltung und eindringlicher Gesang überdeutlich, wie es ihm geht und was er will. Sunnyboy Alfred, Mykhailo Kushlyk, weckt mit zartem Tenorschmelz Rosalindes Gefühle und erhofft sich ein amouröses Intermezzo, käme da nicht die irrtümliche Verhaftung, der er mit Nonchalance begegnet.
Ähnlich wie Johannes Mooser ist Shin Taniguchi eine brillante Besetzung für den Racheakt der Fledermaus Dr. Falke. Diabolisch und hinterlistig zieht er als „Freund“ Eisensteins und „Arrangeur“ des Maskenballs die Fäden. Seinem distinguierten, nach außen harmlosem Auftreten verleiht er durch seine feine Tenorstimme etwas hintergründig Maliziöses. Die grazile Gestalt im schwarz glitzernden Smoking, die schwarzen langen Haare sind charakteristisch für dieses geheimnisvolle Tier.
Tobias Glagau muss als glückloser und eingeschüchterter Advokat Eisensteins einiges aushalten. Mit der Aktentasche vor der Brust schützt er sich vor dessen Wutausbrüchen und stottert, etwas zu dick aufgetragen, gottserbärmlich. Nebenbei tritt er noch als Diener des Prinzen auf und erinnert verdächtig an den aus „Dinner for One“. Nun gibt es da noch den Gerichtsdiener Frosch. Thorsten Merten trumpft in dieser Rolle gewaltig selbstbewusst auf und bekommt viel Raum für einen Soloauftritt. Als ständig Alkoholisierter – karnevalstauglich für die Bütt – lamentiert er ultraseicht ohne Punkt und Komma. Grauenhaft.
Der Chor verführt ständig zum Hingucken. Es sind nicht nur die verrückten diversen Kostüme, Masken und Frisuren, sondern fast jedes Gesicht, jede Haltung, jede Bewegung hat ein Eigenleben. Roman David Rothenaicher glückt die verborgene, aber dennoch wirkungsvolle Präsenz sehr ansprechend.
Regisseur Georg Schmiedleitner serviert dem Meininger Publikum einen unterhaltsamen Cocktail, der es in sich hat und schon nach dem ersten Schluck beschwipst. Komik und Lächerlichkeit gehören ebenso zu den Ingredienzien wie Gemeinheiten, Lügen und Schadenfreude, aber nur in dem Maße, dass keiner mit einem Kater, sondern höchstens mit einem Farbenrausch nach Hause geht. In XXL-Manier will diese Inszenierung vielleicht frühere toppen, indem sie von allem noch ein bisschen mehr draufsetzt. Man muss aufpassen, dass sich die Musik dieser Dominanz nicht unterordnet und läuft Gefahr, diese herrlichen Melodien, die Walzer, die Polkas, die Lieder im Getümmel zu überhören oder gar nur noch als Backgroundbeschallung wahrzunehmen!
Killian Farrell und die Meininger Hofkapelle stehen dabei vor der großen Herausforderung, genau dies zu vermeiden und stemmen diesen Kraftakt erstaunlich gut. Schon die ersten Klänge lösen Reaktionen aus: Das hochansteckende Fledermausvirus verbreitet sich schnell. Die Symptome: Wiegen, Schunkeln, Schenkelklopfen, Klatschen, Mitsummen und entsetzlicherweise Mitsingen.
Langanhaltender Beifall. Es funktioniert wie Opium fürs Volk, ein Musik- und Farbenrausch, der für wenige Stunden die Realität dieser Zeiten ausblendet.
Inge Kutsche, 11. Dezember 2023
Die Fledermaus
Johann Strauss
Staatstheater Meiningen
Besuchte Premiere am 8. Dezember 2023
Inszenierung: Georg Schmiedleitner
Musikalische Leitung: GMD Killian Farrell
Meininger Hofkapelle
Weitere Vorstellungen: 25. und 31. Dezember 2023 | 20. Januar| 11., 17. und 28. Februar | 10. März | 9. Mai | 9. und 30. Juni 2024