In den mythologischen Vorstellungen vieler Kulturen ist der Schatten eines Menschen sein „zweites Ich“, das Spiegelbild seiner Seele. Im Volksglauben ist der bewegliche Schatten ein zum Wesen des Betreffenden gehörender Bestandteil, so wie sein Atem seine Existenz symbolisiert und er mit seinem Versterben in ein „Schattenreich“ eingeht. Deshalb war nicht verwunderlich, dass in der europäischen romantischen Literatur des 19. Jahrhunderts eine Lebenskrise mit dem Verlust des eigenen Schattens des Betroffenen verbunden wurde. Der Dichter und Naturforscher Adelbert von Chamisso (1781-1838), aus den Wirren der Revolution seines Geburtslandes geflohen, kämpfte er auf der Seite Preußens, wurde nach einer Gefangenschaft „auf Ehrenwort“ frei, zog sich im Sommer 1813 auf des Gut eines Freundes nach Kunersdorf im Oderbruch zurück und durchlebte dabei eine Identitätskrise: „Ich bin Franzose in Deutschland und Deutscher in Frankreich“. Seinen Frust verarbeitete Chamisso zur bekanntesten Märchenerzählung der Romantik „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“, in der der Protagonist seinen Schatten dem Teufel verkauft und erkennen muss, dass der Verlust den Ausschluss aus der menschlichen Gesellschaft bedeutet. Nur der Befreiungsschlag mit „Siebenmeilenstiefeln“ verschaffte Peter, wie seinem Schöpfer, eine Karriere als Naturforscher.
Nach der erfolgreichen Zusammenarbeit bei den Opern „Elektra“ und „Der Rosenkavalier“ sprach der Librettist Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) mit dem Komponisten Richard Strauss (1864-1949) über eine weitere Zusammenarbeit. Noch während der Rosenkavalier-Proben im März des Jahres 1911 schlug er eine „Allegorie des Sozialen“, dabei über den Sinn von Paarbeziehungen vor und regte als Grundlage der Oper ein Zaubermärchen an. Die Bedeutung der „Schattenlosigkeit“ für gesellschaftliche Akzeptanz entlehnte er bei Chamisso und ihre Bedeutung für die Fruchtbarkeit in einer Paarbeziehung fand er in Nikolaus Lenaus Gedicht „Anna“.
Richard Strauss sei über das Libretto Hofmannsthals sehr glücklich gewesen und habe sich unmittelbar der Komposition gewidmet. Offenbar hat er aber dem Librettisten intensiv in seine Arbeit hineingeredet und geschrieben, so dass der Musikwissenschaftler Olaf Enderlein aus den Hinterlassenschaften der Zusammenarbeit der Beiden in der Zeit von 1910 bis 1917 eine 814 Seiten umfassende Dissertation schöpfen konnte. Hugo von Hofmannsthal hat seinerseits 1919 seine Prosafassung als Kunstmärchen veröffentlicht, in der er angeblich seit 1912 alle von Strauss gerissenen Lücken der Opernfassung ausfüllte.
Vertieft man sich in das das märchenhaft-mystische und symbolisch in mehreren Ebenen verquickte Libretto, so kommt ohnehin der Verdacht, dass Hofmannsthals brillante poetische Sprache für den Komponisten vor allem ein Gerüst darstellte, über das er seine grandiose Musik ausbreiten konnte. Entstanden ist ein Meisterwerk, weil das märchenhaft-mystische und symbolisch in mehreren Ebenen verquickte Libretto mit seiner poetischen Sprache dem Komponisten die Möglichkeit verschaffte, eine grandiose Musik zu schreiben.
Der Regisseur David Bösch und sein Bühnenbildner Patrick Bannwart konnten sich mit der Unterordnung der Handlung unter die dominante Musik offensichtlich nicht abfinden und gestalteten eine opulente Märchenoper voller bildgewaltiger und mit Metaphern gespickter Einfälle. Sie stellten die Situation beider Paare, unterstützt von den Kostümen der Moana Stemberger, in großer Klarheit gegenüber. Das Kaiser-Paar, weiß gekleidet, lebt in mit vornehmen graublauen Tönen getauchter Umgebung, während die Färbers Leute mit den drei Barak-Brüdern in einer graubraunen vernachlässigten Kombination ihres Arbeits- und Wohnbereichs existierten. Bösch nutzte die Lebensumstände für eine präzise Zeichnung der beiden Frauenschicksale, die in ihrem Emanzipationsstreben eng miteinander verknüpft waren. Von beiden Frauen erwarten ihre Ehepartner den Nachwuchs, was aus unterschiedlichen Gründen nicht gelingen konnte. Die Bühnentechnik half Bösch, die Situation beider Paare als zwei Seiten der gleichen Medaille aufzufassen. Während bei „Kaisers“ die Stimmung gespannt -zivilisatorisch blieb, ging es im Färberhaus ordentlich zur Sache. Vor allem als die Amme mit ihrem Angebot, den Schatten der Färberin gegen gehobene Lebensumstände abzutauschen, in die Handlung eingriff. Da überboten sich Unmengen eleganter Kleidung, teurer Schmuck, Nahrungsmittelüberfluss, sexuelle Möglichkeiten mit attraktiven jungen Männern, gesellschaftlicher Aufstieg und öffentliche Aufmerksamkeit. Die originellste Idee, bereits im Libretto dieser Szenenreihe angelegt, blieb, dass die Amme die Kaiserin als Haushalthilfe in den Färberhaushalt eingeschleust hatte, damit sie, obwohl sie niederste Arbeiten verrichten musste, ständig zur Übernahme des Schattens vor Ort war. Aber kurz vor Abschluss des Handels, versöhnten sich die Färbers Leute. Das Motiv der ungeborenen Kinder hatte das Färberpaar wieder zusammen geführt. Symbolisch aufgeladene Abläufe führten zur Verdammung der Amme, zur Wiederbelebung des versteinerten Kaisers und zur Ausstattung der Kaiserin mit dem notwendigen Schatten. So bleibt: Die Färberin erkennt am Schluss die Autorität des Mannes an und auch die Kaiserin beugt sich der männlichen Vorgabe ihres Vaters.
Im Färberhaus stößt in der Schluss-Szene das Kaiserpaar, allerdings zeitgemäß gekleidet, zu den Färberleuten. Nach Absolvierung des musikalisch hochemotionalen Finales, finden sich neue Paarungen: Barak mit der Kaiserin gehen gemeinsam nach Links und die Färberin geht mit dem Kaiser nach rechts ab. Zurück bleibt auf der kahlen Bühne eine zur ewigen Menschwerdung verurteilte Amme. Für den Partnertausch habe ich in Hofmannsthals Text keine Ansätze finden können. War das nur eine Anspielung auf unsere moderne Gesellschaft? Böschs gekonnte mit Symbolismen überhäufte Show wäre ohnehin eine tiefere Relevanz zu vermitteln, falls man dem Opernabend unbedingt eine besondere gesellschaftliche Bedeutung beimessen möchte.
Die Gelegenheit, in der Generalprobe die Inszenierung vorab kennen zu lernen, erlaubte mir, mich am Premierenabend überwiegend auf die Leistungen der Sänger und Musiker zu konzentrieren. Das Mammutprojekt der „Frau ohne Schatten“ im vollbesetzten Graben mit einer anspruchsvollen Sängerbesetzung und mehreren Chören war bei der von Wagner- und Brucknermusik gestählten Sächsischen Staatskapelle in den besten Händen. Unter dem Dirigat Christian Thielemanns gelang dem Orchester ein in allen Facetten packendes Strauss-Wunder zu gestalten. Bereits das erste dumpfe Anklopfen des Schicksals erklang so aufrüttelnd, dass man auch die kommenden Stunden wie gebannt bei der Musik blieb. Beeindruckten die ersten Schläge aus dem Graben noch mit ihrer Wucht, so war in der Folge das subtile Ausleuchten der Partitur mit ihren Feinheiten, das Aufblühen ihres Raffinements angesagt. Christian Thielemann zelebrierte seinen Strauss nicht in weit gespannten Bögen, differenzierte stattdessen, setzte auf die krasse Modernität der grandiosen Musik und ließ ein beeindruckendes Klanggebirge erstehen. Dabei schöpfte er aus allem, was diese Komposition zu bieten hat, arbeitete Details der unterschiedlichen Klangwelten des Stücks heraus und ließ keinen musikalischen Stein nicht umgedreht. Thielemann weiß um die verführerische Wirkung der großen sich aufbäumenden Tutti, beherrscht aber auch das Filigrane. Die Staatskapelle als ein virtuoses Ensemble mit einem von den Blechbläsern gesättigtem Tutti bis zum kleinsten kammermusikalischen Format reichenden Spektrum, konnte das auch makellos umsetzen. Mit bezaubernden, trotzdem den Raum füllenden Streicher-Soli vom Cellisten Sebastian Fritzsch sowie der Violine Matthias Wollongs in den kammermusikalischen Passagen inclusive dem überwiegend weiblich ausgeprägtem entfesselten Orchester-Chaos wurde alles beherrscht und geriet nie aus der Balance. Auch die chinesischen Gongs, die Glasharmonika, das Heckelphon, und die beiden Celestas fanden ihre Plätze in der Hierarchie. Obwohl Strauss in einer für die Sänger grenzwertigen Lautstärke instrumentiert hatte, gelang Christian Thielemann in jedem Augenblick die höchste Souveränität der dramatischen Führung des Verhältnisses vom Graben und Bühne.
Die Frau ohne Schatten ist berüchtigt für ihre Forderung nach fünf heldenhaften Sängern. Die Semperoper hatte diesem Erfordernis mit einem Quintett der Hauptpartien auf das Glänzendste entsprochen:
Mit Camilla Nylund war die Aufgabe der Kaiserin einer in dieser Rolle bereits erfahrenen Sängerdarstellerin der Extraklasse übertragen worden. Sie begann ihre Darbietung verhalten, tastend und steigerte sich dann zunehmend. So entwickelte Camilla Nylund das betörende Rollenportrait einer Frau, die ihre Verzagtheit besiegte, über sich hinauswuchs und am Ende selbstbewusst triumphierte. Zunächst eine Kaiserin voller Neugierde und Verletzlichkeit, die sich aber aus dem Banne der Amme sowie aus den Zwängen ihrer Herkunft befreien konnte. Auch ihren Gesang setzte Frau Nylund zunächst leise an, um dann ihre Stimme scheinbar mühelos aufblühen zu lassen, dabei ihre betörenden Koloraturen des ersten Aktes mit scheinbarer Leichtigkeit zu bieten, Im dritten Akt wuchs die Sopranistin über sich hinaus und bewies, zu welcher Dramatik, zu welch kontrollierten Ausbrüchen ihre Stimme fähig war. So wurde sie zum wichtigen Bestandteil des hemmungslos entladenden Abschlusses der Oper, zu dem Strauss alle Möglichkeiten seiner Kunst eingesetzt hatte.
Den Kaiser bot Eric Cutler im Spiel kühl und emotionsarm, betonte dabei eher das Lyrische als das Heldenhafte, ohne die innere Entwicklung seiner Figur zu vernachlässigen. Sein Tenor glänzte in seinen beiden herausfordernden Solo-Auftritten mit unangestrengter Leichtigkeit, offener, niemals forcierender, zugleich klangschöner Stimme. Besonders mit seinem großartigen Monolog im zweiten Akt bot Cutler Gesangskunst auf höchstem Niveau.
Als eine der großen Sängerdarstellerinnen unserer Zeit gestaltete Evelyn Herlitzius die Partie der Amme zu einer seltenen Charakterstudie. Mit minimaler Körpersprache, passender Mimik erreichte sie eine außergewöhnliche Bühnen-Präsenz, wenn sie mit wendiger Schläue die Kaiserin, den Färber und die Färberin rücksichtslos manipulierte. Selbst wenn sie nicht sang, bildete sie den Mittelpunkt der Szene. Schaurig-schöne Tiefen ihres kraftvollen Mezzo-Organs ließen in den expressiven Phrasen wie „Übermächte sind im Spiel“ dem Zuschauer einen Schauer über den Rücken laufen. Herlitzius war auch durchaus in der Lage, im oberen Bereich der Gesangspartie schön zu singen. Letztlich musste ihre Figur das Scheitern akzeptieren.
Für den ukrainischen Bariton Oleksandr Pushniak wurde sein Haus- und Rollendebüt als Färber Barak ein schöner Erfolg. Pushniak, der ab der kommenden Saison zum Hausensemble stößt, gestaltete den Barak mit seiner gesamten Bedeutung äußerst differenziert. Als eine scheinbar brutale Persönlichkeit entwickelte er enorme Sympathien. Mit seiner fantastisch warmen schönen Stimme entfaltete er sowohl balsamisch-sanften, als auch triumphal-emphatischen Ausdruck. Zudem fiel seine hervorragende Textverständlichkeit auf.
Die finnische Sopranistin Miina-Liisa Värelä zeigte als Färbersfrau eine erstaunliche Wandlungsfähigkeit mit ihrer Entwicklung von der quarzend-keifenden Megäre zu einem in voller Empathie-Fähigkeit aufglühenden Menschen. Aus der hochneurotischen von ihrer Umgebung missverstanden Frau, die in einem tristen Leben voll unerfüllter Sehnsüchte verdorrte, erwuchs sie, nachdem ihr Barak vermittelte, dass er sie nicht auf „die Gebärerin“ reduzierte, zu einem empfindsam strahlenden Menschen. Miina-Liisa Värelä musste in dieser Konstellation mit ihrer Stimme diese widersprüchlichen Emotionen des gezerrten Charakters überbrücken. Lautstark, nach Bedarf mit brutaler Gereiztheit der keifenden Megäre, schüchtern zerknirscht, konnte sie ihre glühend-leuchtende Sopranstimme mit Wärme und Leidenschaft füllen. Bewunderungswürdig wahrte Värelä immer gerade so viel Nachvollziehbarkeit für ihre abweisenden Bosheiten gegenüber ihrem Mann und dessen Brüdern, dass man ihre Reifung auch nachvollziehen möchte. Andererseits hatte ihr Strauss Momente des Zögerns und aufflackernde Sehnsucht nach Zärtlichkeit in ihren Ausbrüchen zugestanden.
Um die Geschlossenheit der Aufführung zu sichern, waren für die Episoden-Partien zum Teil ausgesprochen Luxus-Sängerdarsteller eingesetzt worden. So waren „Eine Stimme von oben“ mit Christa Mayer und „ein Hüter der Schwelle des Tempels“ mit Nikola Hillebrand besetzt worden. Ein kleines Ereignis war „Die Stimme des Falken“ der US-amerikanische Sopranistin Lea-ann Dunbar. Die „glänzende Erscheinung eines Jünglings“ vom Tenor Martin Mitterrutzner stimmschön eingeworfen, war zweifelsfrei ein Besetzungsprunk. Bemerkenswert war die Darbietung des etwas unheimlichen Geisterboten des kraftvollen Bassisten Andreas Bauer Kanabas. Das gilt auch für die Brüder des Färbers, dem Einäugigen Rafael Fingerlos, dem Einarmigen Tilmann Rönnebeck und dem Buckligen Tansel Akzeybeck, die grotesk komisch mit viel szenischem Einsatz und solidem Gesang die Szene fröhlich auflockerten. Bestechend waren auch die Kinderstimmen mit Nikola Hillebrand, Sofia Savenko, Lee-ann Dunbar, Stephanie Atanasov, Dominika Ṧkrabalová und Michal Doron besetzt.
Beeindruckend war auch das Riesenaufgebot des Sächsischen Staatsopernchores samt des fantastisch mitspielenden und natürlich-singenden Kinderchores der Semperoper.
Fast eine halbe Stunde dauerten die frenetischen Beifallsbekundungen der Premierenbesucher, dessen Lärm noch einmal anschwoll, als auch die Musiker der Staatskapelle die Bühne befüllten.
Thomas Thielemann, 24. März 2024
Die Frau ohne Schatten
Richard Strauss
Semperoper Dresden
Premiere am 23. März 2024
Inszenierung: David Bösch
Musikalische Leitung: Christian Thielemann
Sächsische Staatskapelle Dresden