Eine perfekt aufeinander abgestimmte, stimmliche Höchstleistung vollbringendes Ensemble machte diese Händeloper zum Ereignis. Man lauschte voller Spannung – quasi auf der Sitzkante verharrend – diesen wunderbar geführten Stimmen, die mit ihrer ausgefeilten Gesangstechnik den seelischen Befindlichkeiten ihrer jeweiligen Rolle nachspürten. Da wurde einem keine der vielen Da-capo-Arien zu lang, weil jede dieser Arien nicht als stimmprotzerisches Vehikel sängerischer Eitelkeiten genutzt wurde, sondern eine reichhaltige Palette an Obsessionen, Sehnsüchten und Abgründen offenbarte. Lawrence Zazzo gab einen Giulio Cesare jenseits alles Heroischen. Er war von Anfang an ein von inneren Stimmen Getriebener. Von Stimmen, die ihm Ruhm verhießen, ihn einreihten in die Reihe der römischen Heldenbüsten, welche in diesem Museum, in welchem Regisseurin Nadja Loschky die Handlung spielen ließ, zu sehen waren. Zazzo ließ seinen Countertenor wunderbar weichfließend erklingen, begeisterte mit stupenden Koloraturen und berührender Gestaltung. Ein überaus mild gestimmter, manchmal gar unbeholfen tapsiger “Kriegsheld”, der in den Fängen Cleopatras zu Wachs wurde. Als Cleopatra zog Pretty Yende bei ihrem Rollen- und Hausdebüt in Frankfurt alle Register ihres überragenden Könnens: Die in Belcanto-Partien weltweit gefeierte Sopranistin bewies mit herrlicher Tongebung, “Schöngesang” und geschmackvollen Ausschmückungen, dass sie auch in der Musik des Barocks bombensicher zu Hause ist. Ihre Arie Giusto Ciel am Ende des zweiten Aktes war zum Dahinschmelzen schön und voll inniger Intensität. Die Gattin von Cesares römischem Gegenspieler Pompeius, Cornelia, wird gleich zu Beginn der Oper mit dem blutüberströmten und ihr in einer Vitrine präsentierten Torso ihres Gatten konfrontiert. Ihre Trauer schlägt in Rachegedanken und starke Entschlossenheit um.
Cláudia Ribas ergründete diese tragische Frauenfigur mit unglaublich berührender stimmlicher Wärme. Was für eine grandiose Leistung der jungen Mezzosopranistin, die erst letztes Jahr ihr Masterstudium an der Dansh Royal Academy of Music abgeschlossen hatte und nun dem Frankfurter Opernstudio angehört! Man darf auf den Fortgang ihrer Karriere zuversichtlich gespannt sein. Ihr Bühnensohn Sesto wurde durch die immense Eindringlichkeit der Darstellungskraft von Bianca Andrew zum großen Sympathieträger. Wie sie den adoleszenten Jüngling spielte und sang, war schlicht grandios. Ein Kompliment auch an die Maske: Wenn man es nicht auf dem Besetzungszettel gelesen hätte – und die Stimme als die einer Mezzosopranistin erkannt hätte – wäre man kaum auf den Gedanken gekommen, dass dieser Jüngling von einer Frau gespielt wurde. Von einem Moment auf den andern wird Sesto durch die Ermordung seines Vaters in die Rolle des Rächers katapultiert. Bianca Andrew verstand es hervorragend, die Nöte des Knaben zu transportieren. Nils Wanderer oblag es, die genau entgegengesetzte Rolle zu interpretieren: den Tolomeo, Pharao, minderjähriger Bruder Cleopatras und in aufgezwungener inzestuöser Ehe mit ihr verheiratet. Ein missratener, machtgieriger und charakterlich durch und durch verdorbener Mensch, besessen nur von sich selbst, ohne jegliche Empathie. Seine Stimme allerdings glühte vor Virtuosität in allen Lagen, die dynamische Ausdrucksbandbreite seines Countertenors schien unerschöpflich. Ihm treu ergeben war der Heerführer Achilla – fast bis zum Ende. Viel zu spät erkannte er den abscheulichen Egoismus und die Verdorbenheit Tolomeos. Božidar Smiljanić gestaltete die Rolle mit einnehmendem, agilem Bass. Die Suizidszene war von großer Eindringlichkeit. Aufhorchen ließ der junge Countertenor Iurii Iushkevich mit seinem lichten Timbre als Cleopatra treu ergebener Nireno. Was für ein Versprechen für die Zukunft! Jarrett Porter als Curio wachte sorgsam über Cesare, seinen Herrn. Schade, dass Händel die Rolle nicht mehr ausgebaut hatte: Der schön timbrierten Baritonstimme Jarrett Porters hätte man gerne ausgiebiger gelauscht.
Wie bereits erwähnt, lässt Nadja Loschky die Handlung in einer museumsartigen Flucht von Räumen ablaufen. Das beeindruckende Bühnenbild mit diesen sich horizontal verschiebenden Räumen wurde von Etienne Pluss entworfen. Es ermöglichte erstens schnelle Szenenwechsel und zweitens auch interessante Parallelhandlungen. Absolut genial. Genauso genial wie Nadja Loschkys eindringliche Personenführung, welche die Figuren diese Barockopern zu Menschen aus Fleisch und Blut erweckte, die uns all ihre Befindlichkeiten nahebringen konnten. Leider, leider wurden all diese sorgfältigen Charakterstudien für mein Empfinden durch die Kostüme von Irina Spreckelmeyer unterlaufen: Man fühlte sich mitten in eine queere Fetischpartie katapultiert, Thema “Antike”, bei der die Leute trugen, was halt auf die Schnelle gerade aufzutreiben war. Römischer schwarzer Centurion-Lederschurz, kombiniert mit Anzugsjacke (in der auch eine PET- Wasserflasche steckte) für Cesare, Netz-Top gepaart mit Tutu-artigem Rock und Seidenstrumpfhosen für Nireno, und Tolomeo kam als perlenbehangene Obertunte daher. Dazu kamen in der Haremsszene noch Tiermasken aus Latex, wie man sie neuerdings in gewissen Fetischkreisen trägt. Diese Kostüme mögen dazu beigetragen haben, dass der Beifall des Premierenpublikums für das Inszenierungsteam am Ende doch von einigen Missfallensbekundungen begleitet war.
Einhellig dafür der Applaus und die vielen Bravi-Rufe für die Sängerinnen und Sänger und natürlich für das wunderbar fein und subtil aufspielende Frankfurter Opern- und Museumsorchester (bereichert mit Cembalo. Orgel. Gambe, Laute, Harfe. Block- und Traversflöte) unter der Sorgfalt und Sicherheit ausstrahlenden Leitung von Simone di Felice.
Kaspar Sannemann, 28. März 2024
Giulio Cesare in Egitto
Dramma per musica in drei Akten
von Georg Friedrich Händel
Oper Frankfurt
Premiere am 24. März 2024
Inszenierung: Nadja Loschky
Musikalische Leitung: Simone Di Felice
Frankfurter Opern- und Museumsorchester