Einen solchen Sturm der Begeisterung hatte man im StaatenHaus der Oper Köln lange nicht mehr erlebt. Bravorufe, wildes Trampeln und rhythmisches Klatschen wollten kein Ende nehmen, als sich das Gürzenich-Orchester Köln unter Leitung von Nicholas Carter, der Chor der Oper Köln (Chorleitung: Rustam Samedov) und das bravouröse Sängerquartett vor dem enthusiasmierten Publikum nach Ende der Vorstellung verbeugten. Und dies war mehr als verständlich angesichts einer konzertanten Aufführung von Bizets Frühwerk, die keine Wünsche offen ließ.
In seinem instruktiven Artikel im Programmheft nennt Stephan Steinmetz, Chefdramaturg der Oper Köln, wichtige Daten zur Entstehungsgeschichte der Oper, die über lange Zeit in Vergessenheit geraten war und – zu Unrecht! – als Aschenputtel neben Bizets Welterfolg „Carmen“ ein Leben im Verborgenen fristete. Lag und liegt diese Zurücksetzung vielleicht an der tatsächlich dramaturgisch wenig überzeugenden Handlung, die eine szenische Umsetzung nicht gerade leicht macht? Da scheint es geradezu ein Glücksfall zu sein, dass man in Köln eine konzertante Aufführung der Oper erleben konnte, bei der nur durch Wechsel des farbigen Bühnenhintergrunds die jeweilig durch die Handlung beschriebene Naturstimmung wiedergegeben wird.
Bizet war erst 24 Jahre alt, als er sich zum ersten Mal, so Steinmetz, dem Genre Oper zuwandte. Die Uraufführung 1863 stieß nur auf bescheidene Resonanz, sodass nicht einmal dafür gesorgt wurde, dass die Partitur der Oper im Druck erschien. Ein Klavierauszug von 1864 und eine sechsstimmige Dirigierpartitur ermöglichten in neuerer Zeit eine Rekonstruktion vor allem des Orchesterparts. Und man darf konstatieren: „Die Perlenfischer“ sind aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht: ein Strauß herrlichster Melodien, wunderschöne Arien und Duette, gewaltige Chorszenen und eine farbenreiche, verschwenderische Instrumentierung machen Bizets Opernerstlingswerk zu einem ganz besonderen Hörgenuss. Wenn dann auch noch so großartig gesungen wird wie in Köln, dann geht tatsächlich, wie mein Sitznachbar mir bei der Premiere zuflüsterte, der Himmel auf.
An erster Stelle ist hier die spanische Sopranistin Sarah Blanch als Leila zu nennen. Leila ist Priesterin im Tempel von Kandy auf Ceylon, zu der einst die beiden Freunde Nadir und Zurga in leidenschaftlicher Liebe entbrannten. Um ihre Freundschaft zu retten, leisteten sie den Schwur, die junge Frau nie wieder zu sehen. Der Zufall will es, dass sich Nadir und Zurga, der Anführer der Perlenfischer, bei einem Ritual wiedertreffen, bei dem es darum geht, die Perlenfischer bei ihrer gefährlichen Arbeit zu schützen. Eine junge verschleierte Frau wird als Priesterin auserkoren, um Brahma und Schiwa um Beistand zu bitten. Sie muss einen Eid ablegen, jungfräulich zu bleiben und keinen Umgang mit Männern zu pflegen, sonst droht ihr der Tod. Leila bricht den Eid, als sie Nadir erkennt. Zurga will das Urteil vollstrecken und sich auch an Nadir rächen, begnadigt dann aber beide, als ihm plötzlich klar wird, dass Leila es war, die ihm als kleines Kind einst das Leben gerettet hat. Sarah Blanch gibt in Gesang und Spiel alle Gefühl Leilas, Liebesglück, Trauer, Schmerz, Verzweiflung, Ergebenheit in die ihr auferlegte Strafe, mit einer Intensität wieder, die beim Zuhörer Glücksmomente pur entstehen lässt. In der Tiefe erinnert die Stimme der besonders in Italien gefeierten Rossini-Spezialistin bisweilen an die legendäre Maria Callas, die Koloraturen glitzern wie die Perlen, welche die Fischer Ceylons unter Lebensgefahr vom Meeresgrund holen, die Spitzentöne füllen den weiten Raum des Staatenhauses mühelos, ohne dass auch nur der Ansatz von Schärfe oder Anstrengung zu vernehmen ist. Was für eine großartige Sängerin, die in ihrem rosaroten Glitzerkleid auch rein äußerlich eine wahrhaft priesterliche, majestätische Erscheinung abgibt.
Der koreanische Bariton Insik Choi ist als Eigengewächs der Kölner Oper aus dem Internationalen Opernstudio der Oper Köln hervorgegangen und ist mittlerweile aus dem Ensemble der Oper Köln nicht mehr wegzudenken. Er steht als Zurga seiner Gegenspielerin Leila in nichts nach. Sein warmer, ungemein wohlklingender, raumfüllender Bariton schwingt sich in seiner Arie zu Beginn des dritten Akts, in der Zurga von Rache- und Schuldgefühlen zermartert wird, sogar mühelos zu fast tenoralem Glanz empor. Wie Insik Choi es versteht, seine Stimme vom stärksten Forte ins herrlichste Piano abschwellen zu lassen, verrät schon jetzt einen Sänger, dem man eine ganz große Zukunft voraussagen darf.
Der kubanisch-kolumbianische Tenor Anthony León wurde in den USA geboren und war bereits an der Los Angeles Opera, der Santa Fe Opera, in der Carnegie Hall in New York, am Théâtre des Champs-Élysées in Paris, in der Victoria Hall in Genf und im Arsenal in Metz zu hören. Timbre und Klangfarbe seiner Stimme erinnern an den jungen Calleja und passen wunderbar zu der Partie des Nadir. Besonders in seiner träumerischen Romanze „Je crois entendre encore“, in der er die Erinnerung an Leila heraufbeschwört, und in dem Duett gleich zu Beginn des ersten Aktes „Au Fond Du Temple Saint“, einem Ohrwurm der Opernliteratur, zeigt er große Musikalität und Stimmschönheit. In den Ensembleszenen stößt er mit dem doch eher kleinen Volumen seiner Stimme freilich an Grenzen. Das mindert aber dennoch nicht den Eindruck, dass mit Anthony León ein hoffnungsvoller lyrischer Tenor heranwächst.
Auch Christoph Seidl kann in der eher kleinen Rolle als Nourabad mit voluminösem Bass voll überzeugen.
Gürzenich-Orchester Köln und Chor der Oper Köln spielen und singen auf höchstem Niveau. Nicholas Carter ist dabei ein einfühlsamer, ungemein sängerfreundlicher Dirigent, der den Farbenreichtum der Partitur ganz wunderbar zum Klingen bringt, sich aber auch nicht scheut, in den eindrucksvollen Chorszenen Chor und Orchester groß auftrumpfen zu lassen.
Fazit: „Die Perlenfischer“ in Köln sind ein Hörgenuss der Extraklasse. Wer die Gelegenheit hat, am 20. Juni 2024 (19.30 Uhr StaatenHaus, Oper Köln, Saal 2) die letzte Vorstellung besuchen zu können, sollte sich diesen glanzvollen Opernabend nicht entgehen lassen.
Norbert Pabelick, 15. Juni 2024
Die Perlenfischer
Georges Bizet
Oper Köln
Premiere am 9. Juni 2024
Konzertante Aufführung
Musikalische Leitung: Nicholas Carter
Chor der Oper Köln (Rustam Samedov)
Gürzenich-Orchester Köln