Vorwort: Diese Freischütz-Bearbeitung, frei nach C. M. von Weber, ist trotz optischer Brillanz und schönem Bühnenbild ein Elend
Es gibt ernstzunehmende Musiktheater-Festspiele, wobei ernstzunehmende Open-Air-Aufführungen rar gesät sind. Die Bregenzer Festspiele waren hier, seit ich sie besuche – also seit gut einem halben Jahrhundert – immer ein Erlebnis und aus allen herausragend die Nummer eins.
Warum?
Aufführungen auf der Seebühne sind immer atemberaubende Spektakel. Die Hightech-Anforderungen und deren Realisierung sind mittlerweile Hollywood-reif. Die meisten der täglich 7000 Besucher sind keine Opernfans. Die millionenteure Soundanlage, die von bis zu 10 (!) Tontechnikern bedient wird mit ihren hunderten von teilweise versteckten High-End-Lautsprechern ist das Maß der Dinge.
Wer in Bregenz in den Inszenierungen Tiefenpsychologie, Stimmporno und esoterische Reflektion sucht oder gar hohe Cs zählt, ist dort fehl am Platz, ebenso wie der Partitur-Mitleser, der Schellackplatten-Sammler und Vinyl-Kenner mit seinen 384 Aufnahmen von Aida. Die Bregenzer Festspiele sind einfach nur wunderbare, traumhafte zeitgemäße Unterhaltung für alle, und das auf durchaus akzeptablem internationalem Opernniveau. Und die Geschichte wird weder verfremdet noch unwerktreu gespielt …
… bis heuer 2024 nun Stölzls Freischütz diese Idee zu Grabe getragen hat. Schon die letztjährige Produktion Madama Butterfly war keine Gewinn für Bregenz, denn Regisseur Homoki hatte das „Prinzip Bregenz“ nicht verstanden; er war eben kein Volks-, sondern ein Edel-Regisseur für edle Häuser und intellektuelles Publikum. So war bereits diese Butterfly kein Burner, nicht ausverkauft (was bei einer so großen – praktisch subventionsfrei arbeitenden Bühne – conditio sine qua non sein muss) und enttäuschte auf ganzer Linie.
Mit Action, Krawumm, Feuerwänden, Explosionen, Stunteinlagen und Nebelwerfern – eben den üblichen Ingredienzen dieses Megazauberkastens, hatte seine Produktion nichts am Hut. Sie hätte auch an einem deutschen Stadttheater oder in Zürich laufen können. „Laaaaaangweilig“… Viele waren bodenlos enttäuscht und freuten sich auf Stölzls Freischütz, hatte er doch vor fünf Jahren einen Rigoletto hingelegt, der alle atemlos zurückließ und sich so als idealer Regisseur für die Seebühne erwies. Leider eine Eintagsfliege.
Stölzl hat das doch sehr volkstümliche Werk umkrempeln wollen, so dass die Bezeichnung „frei nach Weber“ stringent und ehrlich gewesen wäre. Die Dialogfassung von Jan Dvorak degradiert die ohnehin recht kurze Musik komplett zur Nebensache. Stölzl sieht das doch recht banale Stück nicht als eine Jäger-Romanze, sondern als „Faust 3“.
Gehen wir in medias res mit konkreter Kritik:
1. Neue Personen dazuzuerfinden geht gar nicht. Nicht bei dieser Oper. So werden wir den ganzen Abend durch eine Art auktorialen Erzähler in zeitgemäßem Deutsch genervt, eine Art Gustav-Gründgens-Faust, der auch die Handlung verändert.
2. In einer woken Welt muss natürlich auch das Bild stimmen – nein, liebe Opernfreunde, Max und Kuno sind dankenswerterweise nicht schwul. Wir sind ja nicht bei Neuenfels. Aber unsere liebe Agathe ist natürlich lesbisch, was der intelligente Stölzl aber nicht allzu dick aufträgt, sonst wäre ja die ganz Oper völlig sinnlos. Im 16. Jahrhundert würde sie auch längst nicht mehr leben – Stichwort Hexenverbrennung.
3. Stölzl hat die legendäre Schwimmbühne direkt an die Zuschauertribüne herangeschoben – ein Riesenfehler. Kein Bodensee mehr dazwischen. „Zur besseren Übersichtlichkeit“ wie verlautet. Genau das Gegenteil war nun das Ergebnis: Das Bühnenbild wirkte zu sehr zerfleddert – zu groß in viele Einzel- und Nebenschauplätze unterteilt, die die Konzentration auf das Wesentliche erschwerte. Die Zuschauer sitzen nun viel zu nah dran, quasi mittendrin.
Und:
4. Es waren meist zu viele Leute und Statisten auf der weiten Bühne, was oft wie in einem Wimmelbild von Alfons Mitgutsch wirkte: ohne klare dramaturgische Richtung, Linie und Begrenzung.
5. Bisweilen hatte die Produktion das Niveau einer Freischütz-Persiflage, aber dann hätte man das durchziehen müssen und nicht nur sporadisch andeuten. Stölzl ist kein Loriot und auch kein Achim Freyer.
6. Den Rest gab er dem Werk durch völlig blödsinnige Regieeinfälle. Der Jungfernkranz wird nicht gewunden, sondern es wird nach ihm im Kreis getaucht, frei nach Art eines Esther-Williams-Wasserballetts. Schlechteres sah ich selten – weder witzig noch sinnvoll. Nur doof.
7. Warum müssen immer alle sinnlos durch das flache Wasser latschen, welches stellenweise sogar (wir befinden uns ja im Winter) zugefroren ist, nur damit Eiskunstläufer machbar sind?
8. Und nun das Ärgste: Die Wolfsschlucht-Szene, auf deren magischen Kugelgieß-Zauber sich ein jeder Zehnjährige freut – die vielleicht einzige Begründung, das Werk überhaupt für die große Schau- und Effektbühne in Bregenz zu nehmen, diese Kernszene ist so banal wie einfallslos gemacht, dass mir die Worte fehlen. „Billigkirmes!“ sagte mein Nachbar. Lächerlich maskierte Zombietaucher erscheinen, dazu kleine Feuerchen wie vom Silvester-Familien-Tischfeuerwerk. Mephisto reitet auf einem eben noch müde im Eis der Jahrhunderte begrabenen Klepper, der vor einen Bauernkarren gespannt ist, wie ein Cowboy in einem alten John-Wayne-Film. Jippieh! Jetzt fehlt nur noch, dass Reinhold Messner um die Ecke kommt und weitere Leichen ausgräbt…
9. Der alte, treue Bregenzer Zuschauer fühlt sich wie beim „Warten auf Godot“. Da muss doch noch etwas kommen!? Wir warten alle auf die ganz großen Effekte. Kommen sie vielleicht am Ende? Kann man die Apokalypse besser gestalten als auf der Bregenzer Zauberbühne? Wir warten vergeblich…
Dabei hatte wohl Philipp Stölzl eigentlich eine geniale Idee gehabt: schauen Sie mal auf diesen Bregenz-Werbetrailer! Das wäre der Coup des Jahrhunderts gewesen. Aus dem ruhigen Bodensee öffnet sich – wie aus einem gigantischen im See verschollenen Zauberkasten ein alte Welt des Fantastischen – die Bühnenlandschaft bricht durch die ruhige Seeoberfläche, und am Ende wäre sie dort wieder verschwunden. Da Bregenz über begnadete Techniker verfügt, wäre das zwar teuer, aber sicher machbar gewesen.
Natürlich verbietet sich der von mir oft verwendete Begriff der „verquirlten Sch…“, denn Stölzl hat eigentlich echt was drauf. Er ist ein großer, talentierter, gestandener Profi, ein vielseitiges Künstertalent, der auch brillante Spielfilme inszeniert hat. Seine Musikvideos, u.v.a. für Madonna, sind geradezu hinreißend. Seine Rammstein-Videos sind Meilensteine. Das Musikvideo für den James Bond -Film „The world is not enough“ für die Band Garbage ist ein eigener kleiner Bondstreifen, fast besser als der Film! Seine sonstigen Werbefilme und Aktivitäten gehören zum Besten und handwerklich brillantesten, was auf dieser Welt zu sehen ist.
Für die Zukunft von Bregenz sehe ich schwarz. Quo vadis? Jedenfalls sollten Sie diesen „Freischütz“ vergessen. Da lohnt auch das künstlerisch phantastisch gelungene, Pieter Bruegel nachempfundene Bühnenbild nicht den Besuch. So schlecht wie die Produktion war auch der zurecht schüttere kurze Schlussbeifall. So wenig Akklamation gab es bei einer Premiere noch nie. Immerhin bei der 2. Aufführung (TV Aufzeichnung) ein bisserl mehr. Für Bregenz Verhältnisse aber immer noch schäbig, mager und enttäuschend – zurecht.
Peter Bilsing, 12. August 2024
PS: Bevor Sie mir nun schreiben, „Der Idiot schreibt ja gar nichts über das Musikalische!“, möchte ich auf die bereits erschienene Kritik unseres Opernfreund-Kollegen Dr. Scholz verweisen. Er würdigt die Musik ausführlich. Es wird auch noch eine dritte Kritik von Dr. Billand kommen.
Diese Kritik erscheint nicht ohne Grund verspätet zum jetzt anstehenden Fernsehtermin in Deutschland. Gehen Sie an diesen Abenden lieber zum Fußball. Außerdem geht Bregenz nur live! Den sensationellen Panorama-Ausblick auf den Bodensee kann man nur vor Ort live erfassen. So wird jede Aufführung (auch wenn es regnet) zum Erlebnis – eigentlich egal, was gespielt wird.
Hier geht es zur Premierenkritik.