Frankfurt: „Der Prinz von Homburg“, Hans Werner Henze

Der Prinz träumt. Zunächst davon, mit einem Lorbeerkranz gekrönt zu werden. Außerdem von Prinzessin Natalie. Traumverloren bekommt er die Anweisungen des Kriegsrates nicht mit und führt sein Regiment in der Schlacht auf eigene Faust gegen den Feind. Siegreich zwar, aber entgegen Recht und Staatsräson. Das Todesurteil ob dieses Ungehorsams nimmt er zunächst schulterzuckend hin, bis ihm ein weiteres Traumgesicht sein offenes Grab vorführt. Jetzt fleht er um sein Leben, was sein Fürst und Richtherr für eine Lektion nutzt: Das Todesurteil möge aufgehoben werden, falls der Delinquent es für ungerecht halte. Gnade vor Recht? Der Prinz entscheidet sich für das Recht. Er ist bereit, sich der Staatsräson zu opfern. Es wird eine Scheinhinrichtung inszeniert, an deren Ende der Prinz sich wie erträumt mit Lorbeer bekränzt sieht. „Ist es ein Traum?“, fragt er und erhält die Antwort: „Ein Traum, was sonst.“

© Barbara Aumüller

Schon die Vorlage des Heinrich von Kleist enthält im Kern eine Versuchsanordnung zu einer philosophischen Problemstellung. Ingeborg Bachmann hat sie für ihr Opernlibretto herauspräpariert und dabei den Schauspieltext radikal zurechtgestutzt. Das Ganze hat dadurch einen solchen Abstraktionsgrad erlangt, daß der Komponist Hans Werner Henze sich als Handlungsort dafür auch das klassische Griechenland statt des frühneuzeitlichen Preußen vorstellen konnte. Der Kernkonflikt erinnert an Bertold Brechts Die Maßnahme, worauf Jens-Daniel Herzog hinweist. Seine Regie gibt sich folgerichtig als Versuchsanordnung auf einer ziemlich leeren Bühne, auf der Johannes Schütz in voller Breite eine kahle Wand aufgebaut hat, die sich zu Beginn angeschrägt in der Tiefe des Raumes zu verlieren scheint, dann aber durch Drehung parallel zum vorderen Bühnenrand eine klare Horizontlinie zieht. Davor sind auf Stühlen sämtliche Protagonisten aufgereiht. Sie sind in dieser szenischen Versuchsanordnung alle für die gesamte Aufführungsdauer anwesend, mitunter als Zuschauer, mitunter als Handelnde, hier als Individuum, dort als Teil eines Kollektivs. Der Regisseur inszeniert sehr genau am Text entlang und versteht es, das Geschehen plastisch, plausibel und vor allem spannend mit seinen darstellerisch ausnahmslos exzellenten Sängern abschnurren zu lassen. In einem Produktionsvideo äußert er, seine Inszenierung sehe nicht so aus, „als ob sie interpretiert“. Damit trifft er den Nagel auf den Kopf. Zu erleben ist perfekte Regiehandwerkskunst: Jeder Schritt, jeder Blick, jede Geste sitzt. Alles dient dem Werk, verdeutlicht den Text und lenkt nicht von der Musik ab. Das Publikum belohnt das Produktionsteam dafür mit ungeteiltem, kräftigem Beifall. Einem wichtigen und prägenden Interpretationsansatz folgt die Regie aber doch: Das gesamte Geschehen ist ein Traum des Prinzen. Das zeigen insbesondere die Kostüme, die mit starken Farbkontrasten und surreal verfremdeten Uniformassoziationen arbeiten. Die Lichtregie (Joachim Klein) markiert das Surreale, indem auch sie sich starker Farbkontraste bedient: Zur Schlacht bei Fehrbellin etwa ziehen die Offiziere ihre Säbel und vollführen stilisierte Schattenkämpfe, derweil die Bühne in dunkelrotes Licht getaucht ist. Ein in unbarmherzig kaltem Weiß leuchtendes Leichentuch markiert das offene Grab. Anders als in anderen Inszenierungen ist das Verlegen in eine Traumwelt aber kein Regietrick, sondern es drängt sich, siehe oben, gleichsam auf.

© Barbara Aumüller

Auch die musikalische Qualität ist vorzüglich. Takeshi Moriuchi präsentiert die elaborierte Partitur klar und mit scharf umrissenen Klangkontrasten. Henze hat ein eigenartiges Amalgam aus dodekaphoner, sogar serieller Strenge und geradezu klischeehaften Wendungen geschaffen: Wenn von Kavalerie die Rede ist, dann imitiert das Schlagzeug Hufgetrappel, Röhrenglocken verweisen beim Blick in das offene Grab auf ein Jenseits, und natürlich blasen Fanfaren allenthalben zur Schlacht. Das sind atonal angeschärfte Klangchiffren des 19. Jahrhunderts. Pierre Boulez, der Hohepriester der musikalischen Avantgarde, hat Henze dafür verachtet. In dem berühmten SPIEGEL-Interview von 1967 kanzelte er gerade den Prinz von Homburg brutal ab:

Henzes Produkte sind wahrhaftig keine modernen Opern. Ich denke da immer an einen lackierten Friseur, der einem ganz oberflächlichen Modernismus huldigt. Henzes »Prinz von Homburg« zum Beispiel ist ein unglücklicher Aufguß von Verdis »Don Carlos« — von seinen andern Opern ganz zu schweigen.

Dabei sind es genau jene Elemente, in denen Henze die große romantische Operntradition aufnimmt und weiterspinnt, welche die Musik genießbar machen. Die dodekaphonen und seriellen Konstruktionen erweisen sich daneben wie stets als abstrakte und blutleere Rechenkunststücke, welche sich allenfalls auf dem Notenpapier nachvollziehen lassen, jedoch im Klangerlebnis nicht anders denn als kakophone Willkür wahrgenommen werden können. Diese Musik kann sich nicht entscheiden, ob sie abstrakt oder illustrativ sein will. Angesichts der Instrumentierungskunst Henzes muß man bedauern, daß er in den 1960er Jahren wie viele seiner Kollegen diese Sackgasse der musikalischen Moderne beschreiten zu müssen glaubte, um als „moderner“ Komponist in elitären Fachkreisen Anerkennung zu finden. Geholfen hat es ihm nicht, wie das Boulez-Zitat zeigt.

© Barbara Aumüller

Den Sängern gönnt der Komponist aber mitunter kantable Wendungen, gar ariose Passagen. Hier trumpft das Frankfurter Ensemble wie gewohnt mit starken Stimmen auf: In den Nebenrollen imponieren etwa Magnus Dietrich mit jugendlich strahlendem Tenor als Graf Hohenzollern, Iain McNeil als Feldmarschall Dörfling und Sebastian Geyer als Obrist Kottwitz mit kernig-virilen Baritonstimmen sowie Juanita Lascarro, Cecilia Hall und Judita Nagyová als gut aufeinander abgestimmte Hofdamen. Als Frankfurter Stammgast gibt Yves Saelens den Kurfürsten mit farbigem Charaktertenor. Magdalena Hinterdobler prunkt mit ihrem jugendlich-dramatischen Sopran als Prinzessin Natalie. In der Publikumsgunst verdrängt sie damit ein wenig den Sänger der Titelpartie. Domen Križaj erscheint beim Schlußapplaus mit einer Miene, als sei er mit seiner Leistung als Prinz von Homburg nicht völlig zufrieden. Dabei hatte die Partitur ihm die Gelegenheit gegeben, die ganze stimmliche Bandbreite seines samtig abgedunkelten Baritons vorzuführen. Es gelingt ihm sogar sehr geschickt, schwebende Falsettklänge zu integrieren. Da war viel Belcanto zu hören. Daß die Figur dabei musikalisch nicht zu einer einheitlichen Kontur finden konnte, geht auf das Konto des Komponisten.

© Barbara Aumüller

Die regiehandwerklich und musikalisch ausgezeichnete Produktion zeigt, daß diese Oper vor allem als Gesamtkunstwerk funktioniert und die Qualität von Kleists Sprache in der kongenialen szenischen Verdichtung von Ingeborg Bachmann die Partitur übertrifft, in der ein als Klangfarbenmagier begabter Komponist sich zum Nachteil seiner Kunst in das Prokrustesbett einer überlebten musikalischen Avantgarde hatte einspannen lassen.

Michael Demel, 28. September 2024


Der Prinz von Homburg
Hans Werner Henze

Oper Frankfurt

Premiere am 22. September 2024

Inszenierung: Jens-Daniel Herzog
Musikalische Leitung: Takeshi Moriuchi

Frankfurter Opern- und Museumsorchester