Der Regisseur Bernd Schmitt hat die schillernde Figur der Lulu gleich in vier Personen aufgeteilt. Das ist ein neuer und durchaus spannender Ansatz. Zunächst erscheint Lulu als Clown (Alba Valdivieso Passolas), dann wird sie zu „la femme“ (Cecilia Seo), zur „Governess“ (Elena Salvatori) sowie zu „la mort“ (Katharina Holzapfel). Außerdem wird noch Moritaten Hafter Gesang mit Texten von Frank Wedekind geboten. Schmitt leugnet hier auch nicht feministische Ansätze. Lulu befindet sich nämlich ständig auf Kollisionskurs mit gesellschaftlichen Normen. Die Figur der Lulu, der Text von Wedekind und die Musik von Berg sind für Bernd Schmitt unendlich vielschichtig, aber niemals ein Idealbild für menschliches Verhalten. Daraus zieht diese Inszenierung ihre Spannungskraft. Alle Männer sind ihr freiwillig hinterhergelaufen, auch die lesbische Gräfin Geschwitz. Die Tragik dieser Figur liegt für Schmitt darin, dass niemand sie wirklich liebt. So verdeutlicht die Lulu bei Schmitt immer wieder drastisch die Schieflage der Gesellschaft.

Das zerklüftete Bühnenbild und die Kostüme von Annette Wolf zeigen auch zahlreiche Tiermasken und verstärken damit die Wirkung des Fantastischen, Surrealistischen und Skurrilen. Der Boden wirkt zerklüftet, hinter dem niederen Gerüst verschwinden die Figuren wie Gespenster, man hat gleichzeitig das Gefühl, dass eine permanente Angst vor Insekten in der Luft lauert. Im Hintergrund erscheinen dann auf einer Leinwand die verschiedenen Gesichter Lulus, die sich wie in einem Psychogramm aufspaltet. Die rasante Entwicklung der Handlung lässt Bernd Schmitt in elektrisierender Weise Revue passieren. Als der Ehemann und Medizinalrat Dr. Goll mitbekommt, dass Lulu und der Maler Sex haben, stirbt er an einem Herzinfarkt. Sie heiratet den Maler, hat aber gleichzeitig mit dem Verleger und Chefredakteur Dr. Ludwig Schön weiterhin ein Liebesverhältnis. Als dieser mit seiner Verlobten im Publikum sitzt, provoziert sie ihn mit einem gespielten Ohnmachtsanfall. Zuvor hat sich der Maler wegen Dr. Schön das Leben genommen. Lulu heiratet Dr. Schön, die Ehe scheitert jedoch bald – und sie erschießt Dr. Schön bei einer Auseinandersetzung. Man spürt bei dieser Inszenierung, wie der gesellschaftliche Abstieg Lulus unaufhaltsam ist. Zuletzt reist sie nach London, wo sie als Prostituierte arbeitet. Dort wird sie von Jack the Ripper ermordet. Der Serienmörder ersticht auch die ihr nachgereiste Gräfin Geschwitz.
Das Stuttgarter Kammerorchester und das Erasmus Ensemble Stuttgart musizieren hier unter der Leitung von Bernhard Epstein mit leidenschaftlicher Emphase. In den Zwischenspielen könnte die elektrisierende Glut manchmal noch stärker hervorleuchten – die geschlossenen musikalischen Formen werden aber sehr gut herausgearbeitet. Dies gilt für den rezitativischen Beginn des ersten Bildes, das sich zu einem reizvollen „Poco Adagio“ mit kanonischem Duett steigert, als der Maler Lulu umwirbt. Auch die Form der Kanzonetta beim Monolog Lulus an der Leiche des Medizinalrats Dr. Goll sticht stark hervor. Und das aufklärende Gespräch Dr. Schöns mit dem Maler entfaltet sich deutlich aus einem einzigen Rhythmus, wobei Lulus Auseinandersetzung mit Dr. Schön die Sonatenform nie verlässt. Das Prinzip der imitatorischen Satztechnik sowie das geheimnisvolle Auftauchen des Krebsmodus der Erdgeist-Quarten als Schlusspunkt der ersten Szene verdeutlichen die akribische Detailarbeit bei dieser Interpretation. Ihre Struktur fällt so nie auseinander. Die Arietta des komplizierten Koloraturliedes von Lulu kurz vor der Ermordung Dr. Schöns gerät zu einem konsequenten Höhepunkt dieser Entwicklung, wobei es den vier Sängerinnen Katharina Holzapfel, Elena Salvatori, Cecilia Seo und Alba Valdivieso Passolas glänzend gelingt, die seelischen Qualen Lulus in leidenschaftlichen Kantilenen zu verdeutlichen. Das erneute Liebesbekenntnis von Dr. Schöns Sohn Alwa gerät zu einem aufwühlenden Rondo. Der fis-Moll-Dreiklang bei Alwa und der Fis-Dur-Dreiklang bei Dr. Schön verdeutlichen sehr markant jene Szene, als Dr. Schön von der Galerie aus beobachtet, dass sein eigener Sohn der Liebhaber seiner Frau ist. Versteckt erscheint später sogar das Tristanmotiv. Selbst die Operettenzitate von Lehar und Kalman unterstreichen gelegentlich sogar humoristische Akzente, die Epstein ebenfalls hervorhebt.
Auch der von Friedrich Cerha vervollständigte dritte Akt erklingt bei dieser insgesamt packenden Aufführung, wobei die Sängerinnen und Sänger von Bernhard Epstein gut geführt werden. Ausdrucksstark ist nicht nur die Gräfin Geschwitz von Sarah Kling, sondern auch der wandlungsfähige Sewon Oh als Alwa Schön und Isaac Tolley als Chefredakteur Dr. Ludwig Schön, dessen Bariton manchmal auch noch voluminöser klingen könnte. Man hat hier immer noch die Idealbesetzung mit Franz Mazura im Ohr. Patrik Hornak als Maler, Siegfried Laukner als Schigolch und Andi Jin als Tierbändiger, Medizinalrat, Theaterdirektor, Journalist und Jack the Ripper liefern überzeugend-dämonische Charakterporträts.

In weiteren Rollen fesseln Clara Schneider als Garderobiere, Gymnasiast und Groom, Mathias Tönges als Athlet, Paulo Maria als Prinz, Kammerdiener, Marquis und Kickboxer, Vladyslava Poyan als Bankier, Linda Bennett als 15-Jährige, Rebecca Herter als Mutter, Olha Slatvinska als Kunstgewerblerin sowie Shaoyu He als Diener, Clown und Professor (wobei diese Figur mit Patrik Hornak, Vladyslava Poyan und Mathias Tönges mehrfach besetzt ist).
So ist diese Produktion der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart ein überzeugendes Plädoyer für die Arbeit der Opernschule, die hier Hervorragendes leistet und vom Publikum zu Recht gefeiert wird.
Alexander Walther 8. Juni 2025
Besonderer Dank an unsere Freunde und Kooperationspartner vom MERKER-online (Wien)
Lulu
Alban Berg
Wilhelmatheater, Stuttgart
Ensemble der Opernschule der Opernschule der Musikhochschule
8. Juni 2025
Regisseur Bernd Schmitt
Dirigat: Bernhard Epstein
Stuttgarter Kammerorchester / Erasmus Ensemble Stuttgart