Auch in diesem Jahr haben wir unsere Kritiker wieder gebeten, eine persönliche Bilanz zur zurückliegenden Saison zu ziehen. Wieder gilt: Ein „Opernhaus des Jahres“ können wir nicht küren. Unsere Kritiker kommen zwar viel herum. Aber den Anspruch, einen repräsentativen Überblick über die Musiktheater im deutschsprachigen Raum zu haben, wird keine Einzelperson erheben können. Die meisten unserer Kritiker haben regionale Schwerpunkte, innerhalb derer sie sich oft sämtliche Produktionen eines Opernhauses ansehen. Daher sind sie in der Lage, eine seriöse, aber natürlich höchst subjektive Saisonbilanz für eine Region oder ein bestimmtes Haus zu ziehen.
Nach dem Staatstheater Wiesbaden blicken wir heute auf das Staatstheater Nürnberg.

Produktionen: Was blieb hängen, was war herausragend?
Sicher schon die erste Produktion der Spielzeit: Goyo Montero, der Chef der Ballettcompagnie, inszenierte mit der Zauberflöte seine erste Oper. Egal, wie einem diese Arbeit en detail gefiel: Sie war ungewöhnlich, weil dort, wo Montero draufsteht, auch Montero drin ist. Also bot man eine szenisch überbordende und permanent in Bewegung befindliche Mozart-Oper, die nicht jedem gefiel (wie auch?), aber einige fantastische Bilder generierte, die hängen blieben: die Übermutter namens Königin der Nacht als Monsterspinne, Papageno als Horrorclown…
Gleichermaßen spektakulär, weniger umstritten und wohl nicht allein meine Nummer 1 der ablaufenden Spielzeit: Die Dreigroschenoper in der Inszenierung des Hausherren Jens-Daniel Herzog: eine in rechtem Maß systemkritische und gleichzeitig ungemein unterhaltsame Inszenierung, in der der kopfüber hängende Mackie Messer des Nicolas Frederik Djuren für Aufsehen sorgte und auch sonst dem Affen Zucker gab.
Was Witz und Spieltempo betrifft, kann man nur die letzte Premiere der Spielzeit – Jerry Hermans La Cage aux Folles – daneben stellen, wo, auf der Basis eines völlig anders gearteten Werks, die Spielerinnen und Spieler zu einer hinreißenden Musik das Publikum rockten.
Bemerkenswerte Sängerinnen:
Im „ernsten“ Repertoire (nennen wir es mal so), also in Händels Alcina, war es die auf die Nürnberger Bühne zurückgekehrte Julia Grüter, die die Zuschauer und -hörer so begeisterte wie beim Eugen Onegin die Einspringerin Tetiana Miyus, die die auch szenisch erfüllte und bewegende Premiere beglückend rettete.
Bemerkenswerte Sänger:
Auf der Männerseite boten Sangmin Lee und Seokjun Kim als Gegensatzpaar im Macbeth schönste Vokaleinsätze.
Nachwuchs:
Als Nachwuchskraft fiel mir die junge Laura Hilden auf, die als Kammerfrau in Macbeth und in der Kinderoper Armide oder Schwein gehabt ihr großes Talent zeigte; man darf gespannt sein, was von ihr noch kommen wird.
Bühnenbild:
Neben Mathis Neidhardts Bühnenbild zur Dreigroschenoper bot die Ausstattung zum Fliegenden Holländer Merkbares; die Überlappung von Horrortraum und Realität, Kunst und psychotischer Wirklichkeit, die im bekanntlich schwer zu inszenierenden und selten wirklich beeindruckenden Gespensterbild zu totaler Deckung kam, wurde von Julius Theodor Semmelmann entworfen.
Choreographie:
In der Alcina amüsierten nicht zuletzt die Choreographien des Ramses Sigl: im Stil der lustigen 20er Jahre.
Chor und Orchester:
Niemals enttäuscht wird man in Nürnberg vom großartigen Chor des Staatstheaters Nürnberg, der unter der Leitung von Tarmo Vaask wieder seine erstklassige Güte ausstellen konnte – und der seine zweite Spielzeit absolvierende GMD Roland Böer weiß, wie man das Orchester des Staatstheaters Nürnberg so in Zaum hält, dass man die tückische Akustik des Hauses, in der fast alles zu laut klingt, fast zu vergessen meint.
Ballett:
Die Ballett-Produktionen des Hauses waren eh gewöhnlich außergewöhnlich; Montero lieferte, nach der unglaublich virtuosen Bonachela / Lake / Montero-Trilogie, in seinem Finale Malditos Benditos den wunderbaren Abschluss einer bei den nationalen und internationalen Kritikern und beim Nürnberger Publikum unausgesetzt erfolgreichen 17jährigen Nürnberger Tätigkeit.
Gab es Enttäuschendes, Langweiliges, grob Fahrlässiges?
1. liegt’s, wie man weiß, immer im Auge des Betrachters, und 2. fällt mir, selbst nach längerem Nachdenken, absolut nichts ein – außer Anna Gablers stimmlich schwache Senta.
Die Bilanz zog Frank Piontek.