
Gibt es so etwas wie ein Dream Team des Barockgesangs? Beim Festival Bayreuth Baroque immer wieder – und im speziellen Fall mit Julia Lezhneva und Franco Fagioli.
„Julia Lezhneva und Franco Fagioli bezaubern das Publikum, und wir verstehen, dass das Liebesduett der Verzweifelten, das zum ersten und bis dato letzten Mal im Jahre 1738 in Rom erklang, nicht von Gestern ist“, schrieb ich fast auf den Tag genau vor fünf Jahren, als mit Nicola Porporas Carlo il Calvo das Festival glanzvoll eröffnet wurde. Nun stehen sie in einem Programm, das schlicht Duetti ed Arie betitelt ist, auf der Bühne jenes Opernhauses, in dem sie einst die verzweifelten amorosi sangen und mimten. Das Programm ist relativ einfach, doch wirkungsvoll genug strukturiert. In seinem Zentrum werden Händels und Porporas Arien und Duette miteinander konfrontiert, damit auch zwei verschiedene Arten, die menschliche Stimme auf der Opernbühne einzusetzen. David Treffinger informiert im wie immer erstklassig informierenden Programmbuch über die Ästhetiken: hier der auch als Gesangslehrer berühmte Komponist, der es liebt, die Stimmen unabhängig vom Text gleichsam zwitschern zu lassen, dort der Musikdramatiker, der seine Figuren psychologisch charakterisiert, indem er auf ein enges Verhältnis von Ton und Wort setzt. Aber ist dem wirklich so? Hat Porpora nur brillante Arien geschrieben?
Am Abend kommt man nicht zum ersten Mal ins Zweifeln, ob eine derartig eindeutige Setzung zutreffend ist. Lehzneva und Fagioli zeigen nämlich in den langsamen Arien und Duetten (siehe Dimmi che m’amo o cara), dass sich der Neapolitaner durchaus auf die Charakterkunst verstand – zumindest dort, wo es ans seelisch Eingemachte geht. Der Abend beginnt übrigens ganz in diesem Sinn – als wollte die Dramaturgie beweisen, dass Porpora eben nicht allein der an Brillanz interessierte Komponist gewesen sei. Die ersten drei Stücke sind Adagio- und Andante-Nummern, bevor es mit Nell’attendere il mio bene aus dem Polifemo (eine Oper, die 2021 in einer konzertanten Aufführung des Bayreuth Baroque zu erleben werden war und aus dem samt Ouvertüre nicht weniger als sieben Ausschnitte zu hören sind) im Tempo Vivace weitergeht. Fagioli ist ein Mann der genauen Artikulation, auch der genauen Affektausdeutungen, er versenkt sich geradezu in die Musik, um – egal ob bei Händel oder bei Porpora – jeweils eine Nummer lang einen Charakter zu schaffen. Schon Dolci, fresche aurette wird zur Arie zum drin Baden. Julia Lehzneva kann alles: das Hochdramatische – im Rezitativ Aci amato mio bene wird es eingeführt – und das Hochartifizielle, das pathetisch Versunkene und das brillant sich Aussingende. Sie ist an diesem Abend die Königin der Koloraturen, so wie Fagioli die gleichsam rasenden Sechzehntelketten in Nell`attendere il mio bene souverän aneinanderreiht; auch die zum headbanging verführende Arie der Agrippina aus dem nicht fachfremden, doch aus Preußen herein schnuppernden Carl Heinrich Graun, also Mi paventi il figlio indegno, zeigt die Sängerin als Koloraturmaschine, der zuzuhören einfach Spaß macht. Es ist dies eine der Stellen, an denen wir merken, dass U und E im sogenannten Barock nicht weit voneinander entfernt waren: eine Musik für Kenner und Genießer – und für all jene, die sich nicht allein für die vergleichslosen Lyrismen Händels – Scherza infidele aus dem Ariodante wird, gesungen von Fagioli, zum geheimen Höhepunkt des Programms – , sondern auch für die virtuosen Zirkuskunststückchen begeistern können. Fagioli hat eine Stimme, die im oberen Register Oboenfärbung und im unteren einen schönen Altton besitzt, der meinen Sitznachbarn nicht zu Unrecht an Marilyn Horne erinnert. Lehzneva überrascht immer wieder, wie ihr Partner, durch verschiedenste dynamische Valeurs. Zusammen sind sie schon deshalb unschlagbar, weil ihre Stimmen vollkommen harmonieren. Singen / spielen sie ein Liebespaar, sind sie eines: so wie in Tacito movi e tardo aus Porporas Polifemo. Nur so ist die geradezu himmlische Länge (nicht Längen) aus dem Liebesduett aus Carlo il Calvo gestaltbar, nur so das Duett aus dem Polifemo ein einziges Hörvergnügen: wenn sich die Stimmen gleichsam umschlingen, wenn sie miteinander turteln, wenn sie verschmelzen, um sich doch wieder voneinander zu lösen. Und wenn Lezhneva die Zweitfassung der später als Lascia chio pianga bekannt gewordenen Arie, also Lascia la spina aus Il trionfo del Tempo e del disinganno singt, bleibt eh kaum ein Auge trocken.
Hinter und neben den Beiden stehen durch Klangzauber und Präzision betörende Profis, mit denen zusammen sie erst zu brillieren vermögen. Das Orchestre de l’Opéra Royal de Versailles ist unter seinem Primgeiger und Leiter Stefan Plewiniak ein Spitzenensemble, der erste Violinist ein Rocker – von hinten sieht er aus wie ein wiederauferstandener Albrecht Dürer -, der die Moderne jeglicher Musik beweist, die an diesem Abend erklingt. Sie tänzeln, schon dies ist bezaubernd, dem Namen der Formation und der großen Versailler Tradition zu Ehren, mit einem Lully herein; die Cembalistin Chloé de Guillebon (wer denkt sich nur diese herrlichen Namen aus??) spielt ein leises Solo, bevor die Truppe auftritt. Plewniak sieht aus wie ein Rocker – und er spielt auch so: nicht allein, wenn er an der konzertierenden Violine aus Angelo Corellis Concerto op. 6/4, zusammen mit seiner Geigenpartnerin Ludmiła Piestrak, ein mitreißendes Bravourstück sondergleichen macht. Ebenso frisch und unmittelbar, als entstünde die Musik erst im Augenblick – und tut sie es nicht? – klingt Purcells Curtain Tune aus Timon of Athens: ein etwas älterer Engländer im deutsch-italienischen Programm, dem noch Händel Einiges verdankte.
Der Abend endet offiziell mit dem auf die totale gioa gepolten Duett Scherzano sul tuo volto aus Händels Rinaldo, „das Ganze schließt freudig“, wie Carl Maria von Weber einmal über den Freischütz sagte. Das eigentliche Finale aber ist ein gesangloses Instrumentalstück, das inzwischen, man schaue sich nur die dritte, in Versailles spielende Folge der Serie Cat’s Eyes an, zu einem der Barockschlager, auch zu einem beliebten Encore wurde: der Danse du Calumet aus Rameaus Les Sauvages. Wie gesagt: Das Ganze schließt freudig.
Frank Piontek, 11. September 2025
Duetti ed Arie
Julia Lezhneva & Franco Fagioli
Markgräfliches Opernhaus
10. September 2025
Leitung: Stefan Plewniak
Orchestre de l’Opéra Royal de Versailles