Auf dem Weg zur Selbstbestimmung
Premiere: 31.10.2021
besuchte Vorstellung: 10.12.2021
Lieber Opernfreund-Freund,
in einer packenden Inszenierung ist Bizets Carmen derzeit in Aachen zu sehen. Regisseurin Lucia Astigarraga zeigt die Geschichte der Schmugglerin als bewegende Entwicklung hin zu Freiheit und Selbstbestimmung. Tolle Sänger und ein engagiertes Orchester sorgen für einen nahezu perfekten Abend.
Als Geschichte einer Freundschaft könnte man den Abend überschreiben. Lucia Astigarraga lässt Carmen, Mercédès und Remendado zwischen den Bildern als Kinder auftreten und zeigt deren Entwicklung zu den Persönlichkeiten, die sie als Erwachsene sind. Im ersten Akt ist Carmen aber noch keineswegs die mutige Freiheitskämpferin, sondern eine nur vermeintlich starke Frau, die den Männern noch als Spielzeug herhalten muss. Im Laufe des Abends lässt Astigarraga sich die Titelfigur zur selbstbestimmten Frau entwickeln, die ihren freien Willen unter keinen Umständen unterordnet und lieber ihr Leben lässt, als ihre Freiheit zu opfern. Zu Beginn von der Männerwelt benutzt, ist es am Ende sie, die mit den Männern spielt. Ganz nebenbei entwickelt sich der kleine Remendado vom schüchternen Jungen zur emanzipierten Transperson. Dank seines strahlenden Tenors sticht der junge Marcel Oleniecki, Stipendiat der Theater Initiative Aachen, dabei nicht nur optisch aus der glänzend besetzten Schar der kleineren Rollen hervor.
So wie die Figur Carmen die Männer von ihrem ersten Auftritt an zu hypnotisieren scheint, so zieht mich die junge Französin Fanny Lustaud durch ihren expressiven Gesang und ihr leidenschaftlichen Spiel in ihren Bann. Ihr ausdrucksstarker Mezzo zeigt alle Farben, die man von dieser Rolle erwartet – und noch mehr. Dass sie vor vier Jahren noch Mitglied des Opernstudios in Straßbourg war, ist kaum zu glauben, so routiniert IST sie Carmen an diesem Freitag und spielt sich förmlich die Seele aus dem Leib. Da braucht es kein Flamencokleid, um spanisches Lokalkolorit zu zeigen – auch wenn das eingestreute Akkordeon oder auf Baskisch gesungene einzelne Textzeilen interessante Akzente setzen. Die farbenfrohen Kostüme von Annemarie Bulla lassen sich zu Beginn unseres Jahrtausends verorten und machen so den Ansatz von Regisseurin Astigarraga allgegenwärtig. Die Bühne von Aida Leonor Guardia ist auf ein paar fast überflüssige Gerüste annähernd leer, so kann sich das exquisite Licht von Manuel Michels vortrefflich entfalten.
Zum Beispiel, in der Blumenarie, die Carlos Pelizari – und das kann man wörtlich nehmen – zum Besten gibt. Er ist kein Don José mit endlosen Spitzentönen voller Virilität, sondern ein emotionsgeladener Tenor, der die Gefühlsseite seiner Figur betont und in deren Verzweiflung wahrlich zu Tränen rührt. Anne-Aurore Cochets Michaela hingegen ist mir über weite Strecken nicht zart genug. Die junge Sängerin verfügt über einen Sopran von feinster Farbe, trumpft aber nach meinem Dafürhalten als junges, unschuldiges Ding vom Lande stimmlich zu sehr auf. Voller Wucht ist auch der Escamillo von Csaba Kotlár, der als umjubelter Torero-Star glänzt und mit vor allem in der Höhe eindrucksvollem Bariton seine Männlichkeit zeigt.
Bestens aufgelegt zeigen sich die Damen und Herren des Chores. Von Jori Klomp betreut, überzeugen sie durch ausgelassene Spielfreude und lebendige Gestaltung und zeigen das pralle Leben. Ein wahres Feuerwerk entfacht GMD Christopher Ward im Graben. Mit flotten Tempi haucht er Bizets Partitur von den ersten Takten der bespielten Ouvertüre an Leben ein, findet aber zum Beispiel in der Kartenarie genügend Ruhe, um den gefühlvollem Gesang auf der Bühne Raum zu geben und sich Emotionen entfalten zu lassen. Auch in den klanglich eindrucksvollen Passagen fühlt er sich wohl, bis hin zum vom Lucia Astigarraga naturalistisch gezeigten Finale. Eine perfekte Mischung ist dieser Abend also und zeigt, dass Oper modern und lebendig sein kann. Die allseits bekannten Melodien der Carmen eignen sich natürlich als idealer Einstieg für Opern-Neulinge. Ob es Ihnen allerdings noch gelingen wird, Tickets für eine Vorstellung unter den Weihnachtsbaum zu legen, ist fraglich. Viele Vorstellungen sind unter den derzeitigen Coronabedingungen nahezu ausverkauft, denn es gilt: eine Carmen geht immer – eine so gute allemal!
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, lieber Opernfreund-Freund, ein frohes Fest und einen guten Rutsch ins Neue Jahr.
Jochen Rüth, 16.12.21