Premiere am 29. Februar 2020
Starkes Musiktheater
Joska Lehtinen/Rik Willebrords/Milda Tubelyte/Rainer Mesecke
Die 2004 in Paris uraufgeführte Oper „Angels in America“ des ungarischen Komponisten Peter Eötvös (Jahrgang 1944) hat es schnell in die Spielpläne auch mittlerer und kleiner Häuser geschafft. Der Oper liegt das gleichnamige, für das Libretto stark gekürzte fünfstündige Schauspiel des Amerikaners Tony Kushner zugrunde. Das seit Anfang der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts überaus erfolgreiche, mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Theaterstück ist eine bittere Abrechnung mit dem bigotten Amerika der ausgehenden 80er-Jahre und die Aufarbeitung der apokalyptischen Gewalt der Aids-Epidemie, die damals und leider auch heute noch die Stigmatisierung von Menschen mit HIV bewirkte. Inzwischen ist die Katastrophe zwar medizinisch gebannt, aber Kushners Stück und ihm folgend die Oper von Eötvös haben ihre Wirkung nicht verloren. Denn es geht dabei um Krankheit und die daraus resultierenden Folgen bis hin zum Tod, also zutiefst menschliche Probleme, nun auch durch das Corona-Virus leider hochaktuell.
Im Libretto von Mari Mezei werden in einer Art Collage verschiedene Geschichten und Personen rund um die Homosexualität und deren Problematik in der Gesellschaft miteinander verbunden: Louis trennt sich aus panischer Angst von seinem an Aids erkrankten Freund Prior, der in halluzinatorischen Visionen Besuch von einem Engel erhält, der ihn als Propheten anspricht und ihn mit dem „großen Werk“ der Rettung der Erde beauftragen will, weil Gott die Engel und den Himmel schon lange verlassen habe. Die Ehe von Harper und ihrem Mann, dem Mormonen Joe, zerbricht an dessen zunächst nicht eingestandener Homosexualität; Harper flüchtet sich in Valium-Trips, während der sie verschiedene Halluzinationen erlebt. Der Rechtsanwalt Roy M. Cohn, die einzige historische Figur des Dramas, ist ein vehementer Schwulenhasser, der mit Männern schläft; als sein Arzt ihm mitteilt, er habe Aids, beharrt er darauf, nicht schwul zu sein, sondern an Leberkrebs zu leiden. Seinen Aids-Tod begleitet ein Racheengel, der Geist von Ethel Rosenberg, die er 1953 mit einer falschen Anklage wegen Spionage auf den elektrischen Stuhl gebracht hatte. Priors Visionen kulminieren schließlich in einem großen Engelsensemble mit apokalyptischen Prophezeiungen zum Ende der Menschheit – hier wird die Tschernobyl-Katastrophe problematisiert. Die Engel wollen Prior davon überzeugen, das „große Werk“ fortzusetzen, was er jedoch ablehnt: Er will von ihnen nur gesegnet werden und mehr Zeit bekommen. Dann legt er symbolisch das Buch des Propheten nieder und lebt mit dem Willen weiter, sich gegen die Diskriminierung von Homosexuellen und damit wohl auch anderen Minderheiten mit dem Ausruf „Ich will mehr leben!“ zur Wehr zu setzen.
Joska Lehtinen/Christian Miedl
Eötvös reizte in besonderer Weise, die jeweiligen Gemütszustände und die im Stück allgegenwärtigen Visionen und Halluzinationen im Gegensatz zu den realen Geschehnissen in Musik umzusetzen. Um typisch amerikanischen Sound zu erreichen, ließ er sich stark von amerikanischer Unterhaltungsmusik beeinflussen und integrierte deshalb Jazz-, Rock- und Musical-Elemente. So nähert er sich in der Ausführung Broadway- und Musical-Aufführungen an, indem alle Sänger Mikroports tragen, was bei den zahlreichen Sprechtexten durchaus angemessen ist. Auch das Orchester mit rund dreißig Instrumentalisten ist verstärkt; im Zusammenklang mit Alltagsgeräuschen werden originale jiddische und auch mormonische Gesänge eingebaut; darüber hinaus sorgt ein ins Orchester integrierte Vocal Trio für passenden Hintergrund-Sound. Aber auch moderne Stilmittel wie Bitonalität kennzeichnen die verschiedenen Ebenen Realität und Halluzination. Die Stimmbehandlung ist vielfältig, indem sie im Parlando-Ton vom freien Sprechen bis zu opernhaften Koloraturgesängen der Engel reicht.
Maximilian Krummen/Zhenyi Hou
Die Neuinszenierung in Braunschweig setzte dies alles sehr geschickt um, indem die vielen Szenenwechsel mit Hilfe der Drehbühne auf einer großen Freifläche mit Blick auf die Skyline von New York erfolgten; die jeweiligen Spielorte wurden durch wenig Mobiliar nur angedeutet. Auf der rechten Seite führte vor älteren Hochhäusern eine Stadtautobahn vorbei (Ausstattung: Adriane Westerbarkey). Das Regieteam um Florentine Klepper ließ den zweiten Teil des Abends nach der großen Zäsur des Anschlags auf das World Trade Center im September 2001 spielen und stellte damit sinnfällig die Verbindung zur Jetztzeit her. Spektakulär krachte vor der Pause das Gebäude mit gewaltigem Getöse und einem Feuersturm zusammen, dessen Trümmer danach auf der Bühne herumlagen. Flott und reibungslos ließen drei Damen und fünf Herren, die mit Ausnahme von Prior und „seinem“ Engel mehrere Rollen zu spielen haben, die vielen Szenen mit den zahlreichen Kostümwechseln, z.B. in das schrill-bunte Engels-Outfit, ablaufen. Man konnte sich gut vorstellen, wie viel Probenarbeit dazu erforderlich war, zumal die Regie offensichtlich ebenso großen Wert darauf gelegt hatte, die unterschiedlichen Charaktere der handelnden Personen sorgfältig nachzuzeichnen.
Milda Tubelyte/Maximilian Krummen
Die darstellerisch und stimmlich hohen Anforderungen ihrer Partien erfüllte das Opernensemble ausgezeichnet. Da ist zunächst Christian Miedl mit gut nachvollziehbarer Gestaltung des leidenden Prior zu nennen; anfangs gefiel besonders, wie weich, geradezu zärtlich er seinen flexiblen Bariton führte, um später in der großen Anklage über die Zustände in der Welt höhensicher und dramatisch aufzutrumpfen. Ebenso halsbrecherisch ist die Partie „seines“ Engels angelegt, mit der sich Jelena Banković glänzend präsentierte. Als drogensüchtige und der zerbrechenden Ehe nachjammernde Harper beeindruckte Milda Tubelytė, die auch den Geist von Ethel Rosenberg mit einiger Dämonie versah. Dabei fiel positiv auf, wie gut ihre Textverständlichkeit war; ihren wie immer erfreulich kultivierten Mezzo setzte sie gekonnt unterschiedlich in den beiden Rollen ein. Eine starke Szene gab es, als sich Harper und Prior in ihren jeweiligen Träumen/Halluzinationen begegneten.
Maximilian Krummen gab Harpers Ehemann Joe als stets ein wenig zweifelnden, braven Biedermann, zu dem sein ausgeglichener Bariton gut passte.
Strotzend vor Selbstgefälligkeit war der korrupte Anwalt Roy Cohn von Rainer Mesecke, dessen starker Bass rollengerecht Eindruck machte. Priors Lebensgefährte Louis, der dessen Krankheit nicht ertragen konnte und dies mit aufgesetzter Munterkeit zu überdecken suchte, war bei Joska Lehtinen und seinem prägnanten Tenor gut aufgehoben. Auffällig war die Variationsbreite, mit der Zhenyi Hou und Rik Willebrords ihre unterschiedlichen Partien zu gestalten wusste. Die Altistin war mit guten Höhen und ebenso überzeugenden Tiefen der skurrile Rabbi Chemelwitz, der ernste Arzt Henry und die besorgte Mutter von Joe, in dessen Wohnung sie erstmal für Sauberkeit sorgte. Als Krankenpfleger Belize, der seine Mühe mit den beiden Aids-Kranken Prior und Roy hatte, als Harper eine touristische Reise in die Antarktis versprechender Mr. Lies und als obdachlose Pennerin setzte der Counter seine klangvolle Stimme passend zur jeweiligen Charakterisierung ein.
Jelena Bankovic/Christian Miedl
Die musikalische Gesamtleitung hatte Braunschweigs 1. Kapellmeister Christopher Lichtenstein, der den vielschichtigen Apparat gut im Griff hatte. Mit präziser Zeichengebung sorgte er zuverlässig dafür, dass das blendend disponierte Staatsorchester, die eingespielten Großstadtgeräusche, ein Terzett des NDR-Chores Hamburg sowie die Sängerinnen und Sänger auf der Bühne stets zusammen blieben.
Fazit: Eine in allen Bereichen gelungene Premiere starken Musiktheaters der Moderne, dem viele gut besuchte Nachfolge-Vorstellungen und Neuproduktionen zu wünschen sind.
Das Premierenpublikum spendete reichlich Beifall für alle Mitwirkenden einschließlich des anwesenden Komponisten.
Fotos: © Thomas M. Jauk
Gerhard Eckels 1. März 2020
Weitere Vorstellungen: 3.,8.,13.,18.,25.3.+16.4.2020