Für Kinder und Großeltern
Vorstellung am 21.11.2014 (Premiere am 08.11.14)
Von der leeren Bühne bis zum Hexenklamauk: eine behutsame Entdeckungsreise für die Kinderfantasie
Für Stadtkämmerer und Finanzminister der Länder gibt es bezüglich der Oper wenig Hoffnung. Zumindest die Totalamputation dieser von ihnen vielfach nur als lästigen Kostenfaktor empfundenen Position wird immer wieder konterkariert durch den 1854 in Siegburg geborenen Komponisten Engelbert Humperdinck. In dessen „Hänsel und Gretel“ (mit UA am Ende einer Zeit, in der immer noch neue Stadttheater gebaut wurden) werden von ihren älteren Geschwistern, Eltern oder Großeltern immer neue Generationen von Kindern zum ersten Opernerlebnis mitgenommen und schauen sich dort die Märchenoper an, die bei weitem meistgespielte Oper in den im deutschen Sprachraum. Immer neue Generationen von Operngängern lockt also dieses Meisterwerk von Engelbert Humperdinck in die Theater, und weil die noch lange weiterleben machen sie weitere Zuschüsse für den Spielbetrieb unabwendbar.
„Kinderstubenweihfestspiel“ hat Humperdinck sine Oper selbst-ironisch genannt. Er war 1882 Angestellter bei Wagners in Bayreuth, hatte aus bühnentechnischen Gründen eine Passage des „Bühnenweihfestspiels“ kompositorisch etwas gelängt und kannte sich also mit Weihspielen schon gut aus. 1893 wurde unter der Stabführung von Richard Strauß die Oper in der heutigen Fassung am damaligen Hoftheater in Weimar uraufgeführt. Da gibt es – zugegebenermaßen nur eine – ganz schwache und zudem nur gestrichelte – Verbindungslinie zu der Produktion in Darmstadt. Denn die hat Karsten Wiegand, der neue Intendant des Staatstheaters eben aus Weimar mitgebracht, wo er sie mit seinem Co-Regisseur Valentin Schwarz 2012 vorgestellt hatte. Für das Staatstheater wurde sie nun weiterentwickelt und von Sebastian Gühne neu einstudiert.
Kinderchor, Gretel (andere Sängerin), Ulrika Strömstedt (Hänsel)
Die Regisseure sehen sich heute jeweils einer Gratwanderung ausgesetzt, wenn sie Hänsel und Gretel inszenieren. Sollen sie versuchen, moderne soziopsychologische Zusammenhänge im Werk zu entdecken (wie jüngst in der verkopften Frankfurter Produktion; Regie Keith Warner) und ein Lehrstück für Erwachsene mit Sozialrealismus aufzuführen oder wollen sie die Kindern mit märchenhafter Bebilderung und vor allem mit dem notorischen Knusperhäuschen in den Bann ziehen. Die Musik bedient beide Fraktionen Da kann der Dirigent machen, was er will; der Ball liegt beim Regisseur. Wo die Eltern (Steuerzahler) abstimmen durften, war die Wahl jeweils klar: sozialrealistische Neudeutungen verschwinden schnell aus dem Repertoire der Häuser; die Märchen halten sich teilweise jahrzehntelang wie jüngst in Wiesbaden, wo sich der neue Intendant Laufenberg sogar einer Protestaktion durch eine „open petition“ ausgesetzt sah, als er die 31 Jahre alte Produktion von Hänsel und Gretel mit über 100 ausverkauften Vorstellungen noch vor seinem Amtsantritt aus dem Programm strich. Vorgeschobene Begründung: das sei Theater, welches er „so nicht aushalte“ (muss er ja auch nicht, denn Theater wird nicht für den Intendanten, sondern fürs Publikum gemacht) und das „keine Qualität“ habe (eine Aussage, die ein sechsstelliges Publikum diskreditiert.) Nun muss er für Wiesbaden erst einmal etwas Besseres finden und einstweilen sein Publikum nach Frankfurt oder Darmstadt schicken.
Gretel (andere Sängerin), Ulrika Strömstedt (Hänsel)
Dort wählte Karsten Wiegand einen mittleren Weg für seine Produktion. Er lässt die Bühne erst einmal ganz leer (Bühnenbild: Bärbl Hohmann) und entkommt so der Notwendigkeit, Hänsel und Gretel und deren soziales Umfeld räumlich zu belegen. Denn alle Kostüme von Alfred Mayerhofer sind aus einer Gegenwart geschöpft, in der es bekanntlich zwar noch Arme gibt, aber keine Besenbinder mehr. Ein Besen dient hier gerade noch als ein auf dem Hexenauftritt vorlaufender Hinweis. Aber zum zweiten Bild deutet er einen Zauberwald an, und im dritten kommt sogar eine Art Knusperhäuschen zum Vorschein. Dann kommt auch das ganze klassische Repertoire mit seinem Märchenspuk zum Tragen: der Ofen, der Schlot, der Hexenritt und die aus den Lebkuchen befreiten Kinder. Dazu auch Blitz und Donner, alles mit einem Schuss Parodie verfremdet.
Das eigentlich Charakteristische der Produktion ist aber, dass die Regie die mitwirkenden und zuschauenden Kinder einlädt, die Geschichte aus ihrer Fantasie entstehen zu lassen und nicht einfach nur schöne Bilder vorsetzt. Denn etwa 50 Kinder und Jugendliche (auch Kinderchor) nehmen schon während des Vorspiels neugierig und vorsichtig von der Bühne Besitz. Gut erzogen, lassen sie ihre Schuhe am Rand der Vorderbühne liegen. Auf die riesige leere Spielfläche wird ein schwarzer Puppenkasten gezogen. Aus diesem holen die Kinder zwei menschengroße Puppen heraus: es sind Hänsel und Gretel leblos in historischer Kleidung mit kurzer Hose bzw. Schürzenkleid und Schleife. Die zuschauenden Kinder können jetzt ihre eigene Fantasie spielen lassen und das kärgliche Bühnengeschehen vervollständigen, bei welchem die Kinder die Puppenkiste zu einem kleinen Puppenspieltheater ausbauen; die Geschichte kann losgehen.
Ulrika Strömstedt Hänsel), KS Katrin Gerstenberger (Hexe)
Das Besenbinderhaus ist die wiederum nackte Vorderbühne vor schwarzem ebenso nacktem Vorhang mit Tür. Bühnenrequisiten werden durch die suggestive Musik und die Darstellungen des Personals ersetzt. Der ziemlich unmotiviert von Gertrud fallen gelassene Milchtopf führt dazu, dass sie die Kinder durch die Tür nach hinten in den Wald zum Erdbeersuchen scheucht. Der Besenbinder tritt aus dem Saal auf; natürlich hat er auch sein „Fläschgen“, später packt er noch zwei handfestere Buddeln aus. Da ist er also doch, der Sozialrealismus! Aber es ist nicht Gertrud, die den Kindern nachstürzt, sondern der Trunkenbold. Die Szene des zweiten Bilds ist vorne und hinten von Vorhängen aus Glitterbändern wie im Revuetheater begrenzt, die den Märchenwald darstellen. Die Personen hinter dem ersten Vorhang sollten allerdings deutlicher sichtbar werden. Zur Nacht fliegt trotz Sandmännchen auch die Hexe schon den Wald. Aber die beiden Geschwister werden durch 14 kleine Engel im Schlaf beschützt, die sie (wo liegt hier der Sinn? – soll das den Kitsch konterkarieren?) mit weißen Lilien bedecken und ihnen eine Totenmaske aufsetzen.
Ulrika Strömstedt Hänsel), KS Katrin Gerstenberger (Hexe), Gretel (andere Sängerin)
Nett wird im Programm erklärt, dass die Kinder jetzt schlafen müssen, weshalb es eine Pause gibt. Nach der Pause zum dritten Bild wird hinter dem hinteren Vorhang erst schemenhaft, dann deutlicher das Knusperhäuschen sichtbar. Es ist ein Erdhaufen oder ein Iglu, mit Lebkuchen bedeckt. Die Drehbühne befördert es nach vorne; nun sieht es aus wie ein überdimensioniertes Biwakzelt, schön rot ausschlagen und vorne offen – wie ein Höllenschlund. Der Ofen ist angeheizt und raucht durch den Schlot. Als Stall wirft die Hexe Hänsel ein Netz über. Bei ihrem Hexenritt ist sie übermotiviert; vor lauter freudiger Erwartung verliert sie den Besen, der dann selbstständig durchs Bühnenbild fegt. Gretel gewinnt gegen die Hexe, der Zauber wird gebannt, und wie in klassischen Inszenierungen werden die entzauberten Kindern aus ihren Lebkuchen in Freiheit gesetzt. Damit sich Ring schließt, wird zum Schluss die große Puppenkiste wieder auf die Bühne geholt. Hierin befinden sich nun der Besenbinder und seine Frau, die ihre Kinder wiederbekommen. Mit viel Bewegung auf der Bühne, klarer Personenführung und einer Reihe von gelungenen Regieeinfällen kann man die Inszenierung als durchaus gelungen bezeichnen.
Kinderchor, Ulrika Strömstedt (Hänsel), Besenbinder (anderer Sänger), Elisabeth Hornung Gertrud), Gretel (andere Sängerin)
Gelungen war auch der musikalische Teil des Abends. Am Pult des Staatsorchesters Darmstadt stand Anna Skrylewa, seit der vergangenen Spielzeit Erste Kapellmeisterin am Staatstheater. Das Dirigat erschien zu Beginn des Vorspiels etwas pastös, aber man merkte bald, was gemeint war: eine leicht romantisierende Unschärfe. Skrylewa fand trotz des etwas schwach besetzten Streicherapparats ein gutes klangliches Gleichgewicht und produzierte mit dem gut aufgelegten Orchester vielfach ein leichtes, zartes Klangbild statt eines schweren spätromantischen Tonfalls. Das Kleinodische der Partitur erfuhr so eine besondere Wertung. Szenisch war der Kinderchor des Staatstheaters Darmstadt wie beschrieben aufgewertet; verstärkt war er noch durch Mitglieder der Darmstädter Singschule, von denen sich ein Mädchen traute, eine Strophe eines Kinderlieds von Gretel im solo zu übernehmen; brava! Ines Kaun und Christian Roß hatten die Chöre einstudiert.
Als Besenbinder Peter war KS Thomas de Vries (bis zur letzten Spielzeit im Ensemble Wiesbaden) eingesprungen, da die parallel besetzten Darmstädter Sänger Oleksandr Prytolyuk und David Pichlmaier beide erkrankt waren. An diesem Tag hatte sich allerdings auch de Vries nach der Vormittagsschulvorstellung als indisponiert ansagen lassen. Man merkte allerdings seinem kraftvollen Bariton, den er nicht zu schonen schien, bestenfalls bei den Spitzentönen eine leichte Schwäche an. Sein Weib Gertrud sang Elisabeth Hornung, die mit deutlich hörbaren Unterschieden in ihren Registern zu tun hatte: in der Bruststimme fast sprechend, in der hohen Lage schwankend, brachte sie nur die Mittelstimme geschmeidig und ausdrucksstark zur Geltung. Für die Rolle der Gretel war Katja Stuber besetzt und gefiel mit ihrem sehr jugendlichen wendigen und hellen Sopran, der in der Höhe schön aufblühte. Den Hänsel hatte Ulrika Strömstedt schon in Weimar 2012 gesungen (sogar schon in der aus Essen übernommenen Vorgängerproduktion von 2003 war sie besetzt). Sie zeigte feines, schön fokussiertes und klares Mezzo-Material und gab sich sehr spielfreudig. Die Darmstädter Grande Dame Kathrin Gerstenberger gestaltete die Hexe stimmlich und darstellerisch begeisternd. Sand- und Taumännchen Esther Dierkes hatte für diese Rollen eine etwas zu schwere und tremolierende Stimme.
Die Aufführung am späten Nachmittag war nur mäßig besucht; aber sie erhielt sehr viel Beifall. Weitere Aufführungen: 23. und 30. November; sowie am 9., 12., 21.,23. und 26. Dezember 2014.
Manfred Langer, 22.11.2014
Fotos: © Candy Welz (Auf den Fotos sind als Gretel Jana Baumeister und als Besenbinder David Pichlmeier aus der Parallelbesetzung zu sehen.)