Darmstadt: „Macbeth“

Doppelt verstörend

Vorstellung am 12.11.2014 (Premiere 27.09.2014)

Ohne Krimi geht die Lady nie ins Bett – eine gescheiterte Ehe

Dass Verdi unter verschiedenen Stoffen für ein neues Opernprojekt am teatro de la pergola in Florenz 1846 gerade den Macbeth aussuchte, soll einen trivialen Grund gehabt haben: an diesem Theater gab es keinen für die klassische Opernliebhaber-Rolle geeigneten ersten Tenor. Diesem Umstand verdankt die Opernliteratur nun eines der ungewöhnlichsten Werke. Eheliche Liebe wird in der Oper nicht ohnehin sehr häufig thematisiert; aber dass die Liebe gar nicht vorkommt und somit auch keine Liebespaar und auch kein Finsterling, der das Zusammenfinden eines Paars hintertreibt, das war dem Publikum 1847 bei der Uraufführung doch neu. Die Oper wurde daher vom Publikum und noch mehr von der Musikkritik zunächst mit Zurückhaltung aufgenommen. Sie beeindruckte aber allein durch den starken Stoff und setzte sich auch im Ausland bald durch. 1865 erstellte Verdi für die Pariser Opéra eine französische Fassung, die später ins Italienische zurückübertragen wurde und zur Grundlage der meisten heutigen Aufführungen wurde, auch für die in Darmstadt vorgestellte Fassung, allerdings ohne Ballett und mit dem düsteren Schluss der Urfassung.

Die finstere Handlung um Machtgier, Hass und Gewalt weicht völlig von dem ab, was man gegen Ende der Belcanto-Zeit von einer italienischen Oper erwartete. Verstörend wirkt der Stoff sogar bei historisierenden traditionellen Inszenierungen. Das schien aber Viestur Kairish, dem lettische Regisseur, den Ihr Kritiker bislang noch nicht auf seiner Liste hatte, nicht zu genügen, denn er sattelte da noch weitere verstörende (und wenig sinnstiftende) Bilder drauf und mischte das Ganze mit einer Reihe von mehr oder weniger stringenten Einfällen auf, ohne aber dem an sich validen Regieansatz eine klare Entwicklung zu geben. Da die Handlung des vieraktigen Werks sich über einige Monate hinzieht, ist eine Verstetigung der Bebilderung beim Macbeth umso wichtiger, damit das Werk nicht auseinanderfällt. Mit den vielen, teilweise unmotivierten Vorhängen vor allem im ersten Aufzug wird jedoch der Fluss von Handlung und Musik immer wieder aufgehalten (Dramaturgie: Mark Schachtsiek).

Kairish verlegt die Handlung in die Jetztzeit. Die grausamen Kriegshelden Macbeth und Banquo kommen mit Samsonite-Koffern aus einem modernen Krieg nach Hause. Sie gelangen nicht in ein finsteres von Hexen bewohntes schottisches Hochmoor und ein düsteres Burggemäuer, sondern in die moderne Zivilisation zurück. Dort kommen zuerst an einem Geschäft für Brautmoden vorbei. In einem Guckkasten unter den zweideutigen Lettern „TRAU DICH“ ist ein Dutzend hübscher Schaufensterpuppen im Brautkleid ausgestellt. Abrupter Beleuchtungswechsel (auch später arbeitet der Lichtregisseur Dieter Göckel wenig subtil mit plakativem Lichtwechsel) wandelt die Puppen in Hexen um, die mit ihren Prophezeiungen die eigentliche Handlung anschieben. Verwandlung: in den Guckkasten wird von der Seite das Schlafzimmer des Ehepaares MacBeth mit einem schönen Hochzeitsfoto aus glücklichen Zeiten über dem Bett hineingeschoben. Es wird die zweite Intention der Regie deutlich. Es geht um das Eheleben der Macbeths und ihre Kinderlosigkeit. Dieses Thema wird bei vielen Macbeth-Inszenierungen eher unterschwellig behandelt, gewissermaßen als aus der Shakespeare-Vorlage entnommenes Substrat. In der Kairish-Inszenierung wird es aber zum Superstrat und verdrängt mit eigenartigen, auch lächerlich-trivialen Bildern die Macbeth-Erzählung in die zweite Reihe. Was macht denn ein Ehepaar, wenn der Mann aus grausam geführtem Krieg nach Hause zurückkehrt? Nicht das, was man zunächst annehmen möchte: denn die Lady nimmt einen Schmöker mit ins Bett, nachdem sie zuvor mit der Nachttischlampe geschmust hat (Tiefpunkt der Inszenierung!) Kein Wunder, dass es keine Kinder gibt. Doch hier geht es um die zentrale Frage nach den Triebkräften des Ehepaars Macbeth: warum verfolgen die Banquo, Macduff und deren Sippschaft mit Schwert und Dolch, wo sie doch die Königsmacht mangels Masse sowieso nicht in einer eigenen Dynastie übergeben können. Aus Mordlust? Auf diese Frage gibt die Regie keine Antwort, sondern lässt immer wieder neue Kinder auf die Bühne kriechen oder laufen.

Lady Macbeth (andere Sängerin)

Das wandlungsfähige und später noch mehrfach verwandelte Bühnenbild hat Reinis Dzudzillo entworfen. Durch Hochziehen der Zwischenwand wird das kleine miefige Schlafzimmer der Macbeths in einen riesigen Saal verwandelt; das zentrale Ehebett bleibt das gleiche; der große Raum ist für den Empfang des Königs Duncan erforderlich. Vorher zieht noch eine Leichenprozession an der Rampe entlang. Man weiß nicht genau, ob hier der von Duncan besiegte und ermordete Kriegsgegner, der Than von Cawdor, mit verlogener Ehrenbezeigung zu Grabe getragen wird, ob es die Vision der Funeralien des noch zu ermordenden Königs oder gar die Ahnung von Macbeths eigenem Leichenbegängnis ist. Dann kriecht ein Kind auf der Bühne umher, dessen Aussehen zwischen Fötus und Tolkiens Hobbits liegt: im Gesicht gezeichnet wie Macbeth selbst. Der große Schlafzimmersaal dient jetzt als Szenerie für die Ermordung des Königs, aber auch als Park (parco) für die Verfolgung und Ermordung Banquos, eine Szene, der es durch steife Stilisierung völlig an Spannung gebricht). Auch für das große Fest bleibt man bei diesem Bühnenraum, in welchem das zentrale Ehebett, auf welchem erst der ermordete König, später Banquo liegt, mit dem die Lady noch eigene Art Totentanz aufführt, an den Bühnenrändern von gedeckten Tischen des festlichen Diners umgeben wird.

Maksim Aniskin (Macbeth), Katrin Gerstenberger (Lady), Vadim Kravets (Banquo)

Ist bislang durch das Bühnenbild eine gewisse Durchgängigkeit der Inszenierung gegeben, wird dieses Prinzip zur zweiten Hexenszene gebrochen. Nun befindet sich Macbeth im Guckkasten und die Hexen davor. Macbeth gräbt mit bloßen Händen die Erscheinungen aus der schottischen Erde: zuerst einen gefallenen Kriegskameraden und dann … natürlich zwei Kinder. Das Volk (mit durch Halbmasken verzerrten Gesichtern) bejammert die Schreckensherrschaft des Ehepaars Macbeth auf der wieder groß geöffneten Bühne auf einem hochgefahrenen Heideboden. Aus Erdlöchern könnten jederzeit Tolkiensche Fantasiefiguren kriechen. Stattdessen kommen aber unten an der Rampe zwei wohldefinierte Figuren angekrochen: Macduff als halbnackter Halbmensch und – in einer adretten Uniform – Malcolm. Wald wächst hier nicht; aber das Volk bewaffnet sich mit kleinen Schaufeln und geht anscheinend daran, den Wald von Birnam erst einmal zu pflanzen. Die Erde des schottischen Bodens ist schließlich von der Seite auch ins Schlafzimmer der Macbeths eingedrungen. Dieses versinkt unter den Heideboden unter eine starke Betonplatte. Die Lady, die immer noch in ihrem Roman liest, befindet sich im Wahn; das Erlöschen der flackernden Nachttischlampe kündet von ihrem Ende. Macbeth, der sich an sich durch das neue Orakel in Sicherheit wiegen könnte, wartet in diesem Führerbunker auf sein Ende. Mit blutverschmierten Kinderfiguren das Publikum zu verstören, kann beim Macbeth, der schon verstörend genug ist, nicht die Aufgabe eines aufgeschlossenen Regisseurs sein. Und die Idee, dass MacBeth von einem dieser fötus-ähnlichen Kinder zum Schluss mit einer Spielzeugschaufel getötet wird, richtet nachträglich den gesamten Regieansatz mit dem an sich durchaus vorhanden Potential: Hier wir die fixe Idee des Regisseurs ganz einfach zum werkwidrigen Unsinn. Und alles zusammen wirkte das nicht einmal spannend, sondern nur ermüdend. – Ilse Welter hat das Bühnenpersonal bekleidet: da stehen neben der vornehmen zivilen Hofgesellschaft im Smoking die nicht integrierbaren Uniformierten in schicken olivgrünen Uniformen, der König mit viel Lametta.

Maksim Aniskin (Macbeth); Lady (andere Sängerin)

Musikalisch hatte der Abend wesentlich mehr zu bieten als diese verkorkste Regie. Bei aller Ähnlichkeit zwischen den frühen und mittleren Verdi-Opern haben die doch alle ihre eigene tinta, aber die MacBeth-Partitur outet sich als solche in ihrer Originalität immer schon nach wenigen Takten. Hier leistete der neue Darmstädter GMD Will Humburg mit dem Staatsorchester Darmstadt Vorbildliches und vor allem sehr Nachhaltiges. Humburg arbeitete ein breites nuanciertes ausdrucksstarkes Spektrum aus der Partitur heraus. Das beginnt mit den feinen Holzbläserfiguren der Ouvertüre, wird in Farbmischungen auch mit den Blechbläsern fortgesetzt und mit dem Kitt einer perfekten satten Streichergrundierung zusammengehalten. „Es muss auch mal richtig krachen“ sagt Humburg in einem Interview. Das tat es unter anderem auch, aber den größeren Eindruck hinterließ die in großen Bögen angelegte Dynamik, die für die Partitur typischen (damals modernen) Halbtonschritte und die vielen markanten schreitenden Rhythmen der Partitur. Das Orchester absolvierte die mit fast extremen dramatischen Kontrasten aufgedeckte Partitur durchweg mit Perfektion. Das gleiche konnte man von Chor und Extrachor des Staatstheaters nicht immer sagen. Klanggewalt und -schönheit waren doch einige Male von zu deutlichen Unschärfen durchzogen.

Maksim Aniskin, der Sänger der Titelrolle, war an diesem Abend erkältet angesagt. Man spürte dies vielleicht bei seinen etwas wackligen Höhen, aber vermutlich ist sein an sich sehr kultiviertes nobles Bariton-Material auch an normalen Tagen nicht mit der Durchschlagskraft versehen, die man in dieser Rolle gewöhnt ist. So konnte die Unausgewogenheit in der Kraftentfaltung bei den Duetten gerade mit der Lady auch als seine Unterordnung erklären. Die Lady sieht sich bei ihrer Kavatine einer gewaltigen Auftrittsarie gegenüber. Katrin Gerstenberger meisterte dieses zwar mit einem anfänglichen bei ihr ungewohnten Tremolo, kam aber sehr schnell in die Rolle und sang sie mit Glut und Kraft, nicht dreckig, wie Verdi das gefordert hat, aber mit Ungenauigkeiten bei der Intonation in fordernder Höhe. Der Banquo des Vadim Kravets überzeugte mit seinem sonoren, kraftvollen Bass. Felipe Rojas Velozo präsentierte neben seinem von der Regie erzwungenen jämmerlichen und für ihn unvorteilhaften Auftritt als Macduff kraftvolles bronzenes Tenormaterial. Christopher Kaplan hatte als Malcolm mit seinem helleren klaren glatten Tenor leider nur wenig zu singen, und mit Elisabeth Hornung war die weitere Nebenrolle der Kammerfrau ebenfalls luxuriös besetzt. Die Knabensoprane als Erscheinungen konnten ohnehin keine Wirkung erzielen.

Die Opernkritik, die sich (vielfach hinter vorgehaltener Hand) am Inszenierungsstil der Ära John Dew (vor allem natürlich an dessen eigenem) aufhielt, hat nun in Darmstadt einen „Neuanfang“ in „Anspruch und Qualität“ konstatiert. Das ist eine faire Aufmunterung an die Adresse der neuen, aber gleichzeitig eine unfaire Abwertung der alten Intendanz, die dem Darmstädter Musiktheater in Programmierung und Ausführung eine besondere Ästhetik verliehen hatte und dort für volles Haus gesorgt hatte. Davon war an diesem Abend weniger zu bemerken. In der Pause schnappte man vom Publikum, das das Haus nur mäßig gefüllt hatte, Gesprächsbrocken der Ratlosigkeit auf. Die Lücken in den Sitzreihen des Saals waren nach der Pause noch größer geworden; der Beifall am Ende kaum mehr als höflich. Da muss die Intendanz noch etliche Erziehungsarbeit leisten. Nur der GMD wurde zu Recht etwas euphorischer bedacht. Weitere Vorstellungen des Macbeth kommen am 22.11., 13. und 30.12. sowie am 06. und 20.02.

Manfred Langer, 13.11.2014 Fotos: Martin Sigmund