Mit der Walküre ging die erste zyklische Aufführung von Wagners Ring an der Staatsoper Stuttgart in die zweite Runde. Neu war, dass Intendant Victor Schoner für die Inszenierung gleich drei Regieteams engagiert hatte, für jeden Aufzug eines. Damit hat er seinen ruhmreichen Vorgänger Klaus Zehelein, dessen Konzept, die einzelnen Ring-Teile auf vier verschiedene Regisseure zu verteilen, damals Furore machte, sogar noch übertroffen. Auf diese Weise wurde das Publikum an diesem Abend gleich mit vier unterschiedlichen Herangehensweisen an Wagners Werk konfrontiert. Dieser Ansatzpunkt konnte sich sehen lassen. Das machte Eindruck! Dass die Aufführung dennoch einen zwiespältigen Eindruck hinterließ, lag mehr an der technischen Seite. Davon wird im Folgenden die Rede sein.
Den ersten Aufzug setzte in Personalunion für Regie, Bühne, Kostüme, Licht und Live-Animation-Film die holländische Gruppe Hotel Modern in Szene. Sie vertraute dabei voll und ganz auf bildliche Wirkungen. Die ganze Zeit über liefen Live-Animationsfilme ab. Ununterbrochen wurden Ratten, zerstörte Landschaften und baufällige Gebäude auf eine im Hintergrund befindliche Leinwand geworfen. Erst als Siegmund die Winterstürme besang, mischten sich grüne Sträucher unter das triste Grau. Diese Kriegsbilder erweckten Assoziationen zu dem gegenwärtigen Ukraine-Krieg. Da Hotel Modern seine Konzeption indes bereits noch vor dem Ausbruch dieser aktuellen kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Russland und der Ukraine erarbeitet hatte, kann sie diese nicht im Auge gehabt haben. Vielmehr intendierte sie einen Stellvertreter-Krieg, den die Menschen für Wotan und Alberich ausfechten. Das machte durchaus Sinn. Zu Beginn erblickte man auf der Leinwand eine Ratte. Siegmund, Sieglinde und Hunding trugen ebenfalls zeitweilig Rattenköpfe. Die Ratten symbolisieren nach Hotel Modern sowohl den Tod als auch das Leben. Sie sind Überlebende in einer lebensfeindlichen Umgebung (vgl. Programmheft). Diese Deutung war durchaus akzeptabel. Der gedankliche Überbau, den Hotel Modern dem ersten Aufzug angedeihen ließ, war in Ordnung. Weniger gelungen war indes die szenische Umsetzung. Die Sänger waren mit all ihren Emotionen größtenteils zu purem Rampensingen verurteilt. Die Personenregie war alles andere als ausgefeilt und interessant, was den ersten Aufzug zu einer äußerst langatmigen Angelegenheit werden ließ. Die für die Filme verantwortlichen Statisten schenkten den Geschwistern nicht die geringste Aufmerksamkeit. Erst am Ende des ersten Aufzuges überreichten sie Siegmund und Sieglinde ein Seil, mit dem diese dann das riesige Schwert Nothung – dieses steckte hier nicht in dem heruntergekommenen Eschenstamm in der Mitte der Bühne – vom Schnürboden herabzogen. Es ist schon schade, dass die Sänger hier derart auf sich allein gestellt waren. In puncto Personenführung wurden wahrlich zahlreiche Möglichkeiten gnadenlos verschenkt. Demgemäß ist der erste Aufzug rein szenisch als misslungen anzusehen.
Besser war es um den zweiten Aufzug bestellt, der in der Verantwortung von Urs Schönebaum (Regie, Raum und Licht) und Yashi (Kostüme) lag. Hier gab es nichts zu bemängeln. Die Konzeption war überzeugend und auch die Führung der Personen war kurzweilig. Herr Schönebaum kommt aus der Schule Robert Wilsons, indes mutet seine Arbeitsweise ganz anders an als diejenige seines berühmten Lehrers. Bei ihm entstammte jede Figur der dramatischen Handlung einer anderen Epoche. Der erste Teil des zweiten Aufzuges wurde von einem variablen blauen Nebel beherrscht. Zu Beginn erblickte man Wotan als liebevollen Vater seiner menschlichen Kinder Siegmund und Sieglinde. Zusammen mit ihnen stand er an einer Vitrine, in der ein Ast der Weltesche aufbewahrt wurde. Großen Stolz fühlte er für seine Lieblingstochter Brünnhilde. Fricka interpretierte der Regisseur als elegante Grande Dame, die offenbar gerade von einem Fest der High Society zurückkam und der sich ihr Gatte Wotan zunächst noch in jeder Hinsicht überlegen fühlte. Das dauerte aber nicht allzu lange. Fricka vermochte ihm seinen Chauvinismus schnell auszutreiben. Dabei bediente sie sich gleichsam erotischer wie gewalttätiger Mittel. So stieß sie ihn einmal brutal zu Boden. Als sie dem frustrierten Obergott den Eid abnahm, Siegmund im Kampf mit Hunding fallen zu lassen, ging im Hintergrund der Nebelprospekt in die Höhe. In der Folge war die Bühne bis zum Schluss des zweiten Aufzuges in tristes Dunkel gehüllt. Als Szenographen fungierten hier sieben Türme. In Wotans Gefolge befand sich eine Schar von Kapuzenmännern, die während seiner großen Erzählung herbeikamen und die Vitrine mit dem Ast davontrugen. Zwei dieser Gestalten sekundierten später Brünnhilde bei der Todesverkündigung als Fackelträger. Bereits zuvor hatten die Kinder Siegmund und Sieglinde erneut die Bühne betreten. Von einem ihnen von Wotan aus Stangen errichteten zeltartigen Bau beobachteten sie neugierig das Treiben ihrer erwachsenen Alter Egos. Der erwachsene Siegmund errichtete seiner Schwester ebenfalls eine solche Unterkunft, in der diese während seines Gespräches mit Brünnhilde schlummerte. Am Ende des zweiten Aufzuges tötete nicht Hunding den glücklosen Wälsung, sondern Wotan höchstpersönlich. Wie wild stach er immer wieder aufs Neue mit einem Messer auf seinen sterbenden Sohn ein. Danach tötete einer der Kapuzenmänner auf seine Anweisung hin Hunding. Dieser Aufzug war von der Regie her in jeder Beziehung gelungen.
Was sich von dem anschließenden dritten Aufzug leider wieder nicht sagen lässt. Die Arbeit von Ulla von Brandenburg (Regie, Raum und Kostüme) war alles andere als aufregend, was seinen Grund insbesondere in der nicht gerade stringenten Personenregie hatte. Langweile pur war angesagt! Nicht zu bestreiten ist, dass die wellenförmige Farbsymphonie, die sie auf die Bühne brachte, sowie die verschiedenfarbigen Kleider der Walküren schön anzusehen waren. Eine übergeordnete geistige Konzeption vermisste man jedoch stark. Das Hauptaugenmerk der Regisseurin richtete sich anscheinend darauf, bei den Kostümen jeweils die Komplementärfarben einander gegenüber zu stellen. Immerhin waren die kleinen Walküren von der individuellen Seite her gut gezeichnet. Von atemberaubender Spannung konnte aber bei der großen Auseinandersetzung zwischen Wotan und Brünnhilde keine Rede sein. Am Ende lag Wotans ehemalige Wunschmaid auf einer der farbigen Wellen, während im Hintergrund ein Double von ihr in einen hellen, in der Luft schwebenden Ring gebettet wurde. Dieses Bild machte zwar einen gewaltigen Eindruck, konnte insgesamt den dritten Aufzug jedoch nicht retten. Gleich dem ersten Aufzug wirkte dieser in gleicher Weise szenisch vertan.
Größtenteils zufrieden sein konnte man mit den gesanglichen Leistungen. An erster Stelle ist hier Simone Schneider zu nennen, die sich mit ihrem herrlich italienisch fokussierten, in jeder Lage saft- und kraftvollen und zur Höhe hin schön aufblühenden dramatischen Sopran in die erste Liga der Vertreterinnen der Sieglinde einreihte. Die Stimme floss flüssig und mit ansprechendem Legato durch die verschiedenen Tessituren, dass es eine Freude war, ihr zuzuhören. Das war eine ganz große Leistung. Neben ihr vermochte der bar jeder soliden Körperstütze und stark in die Maske singende Siegmund von Christopher Ventris nicht zu überzeugen. Das für diese Rolle so nötige baritonale Fundament ging ihm gänzlich ab. Die Notung-Rufe am Ende des ersten Aufzuges klangen schwach und das hohe ‚a‘ bei So blühe denn, Wälsungenblut! sogar recht angestrengt. Von einer optimalen Leistung war er an diesem Abend weit entfernt. Ganz anders verhielt es sich bei Okka von der Damerau als Brünnhilde. Zwar merkte man bei den einleitenden Hojotoho-Rufen noch, dass man es hier nicht mit einem Sopran, sondern mit einem Mezzosopran zu tun hatte. Indes bewältigte sie die Schwierigkeiten der Partie sehr achtbar. Insbesondere vermochten ihre profunde Mittellage und die gefühlvolle Tongebung zu begeistern. Die Wandlung der Walküre zu einer liebenden Frau hat sie trefflich vermittelt. Neben ihr gefiel mit kraftvollem, imposantem und bestens fokussiertem Heldenbariton Thomas J. Mayer in der Rolle des Wotan, den er auch ansprechend spielte. Phantastisch schnitt Annika Schlichts Fricka ab. Hier haben wir es mit einer Sängerin zu tun, deren Mezzosopran voll und rund, dabei aber auch kräftig und intensiv klang und ebenmäßig geführt wurde – alles Voraussetzungen für eine sehr differenzierte vokale Anlage der Figur. Stimmlich überhaupt nichts auszusetzen gab es an dem äußerst nobel intonierenden Hunding von David Steffens. Darstellerisch wirkte der junge Sänger aber etwas zu sympathisch für diese Partie. Bei Esther Dierkes (Gerhilde), Clare Tunney (Helmwige), Leia Lensing (Waltraute), Stine Marie Fischer (Schwertleite), Catriona Smith (Ortlinde), Linsey Coppens (Siegrune), Shannon Keegan (Rossweiße) und Maria Theresa Ullrich (Grimgerde) war die Schar der kleinen Walküren in bewährten Händen.
Am Pult des bestens disponierten Staatsorchesters Stuttgart setzte GMD Cornelius Meister bis auf den recht zügig dirigierten einleitenden Gewitterzauber eher auf langsame, bedächtige Tempi. Das Nebeneinander von kraftvollen, dramatischen und eleganten lyrischen und emotionalen Passagen wurde von ihm trefflich ausgelotet, woraus ein differenzierter und nuancenreicher Klangteppich resultierte. Auch über seine gekonnte Herausarbeitung der verschiedenen Farben der Partitur konnte man sich nicht beklagen. Zwar war seine Herangehensweise an Wagners Werk nicht schwerer und wuchtiger Art, ließ aber dennoch eine gute Dramatik nicht vermissen. Musikalisch konnte man zufrieden sein.
Ludwig Steinbach, 6. März 2023
Die Walküre
Richard Wagner
Staatsoper Stuttgart
Besuchte Aufführung: 4. März 2023
Premiere: 10. April 2022
Inszenierung: Hotel Modern, Urs Schönebaum, Ulla von Brandenburg
Musikalische Leitung: GMD Cornelius Meister
Staatsorchester Stuttgart