3. November 2021 im Kulturpalast Dresden
Dass der 1727 in Danzig geborene Cembalist und Organist Johann Gottlieb Theophilus Goldberg zum Namenspatron des bedeutendsten Variationswerk der Musik „BWV 988“ wurde, verdankt er, wie so oft im Musikleben, dem Umstand, dass eine gut erfundene Anekdote den Weg in die Konzertprogramme findet und in der Folge nicht mehr zu tilgen ist.
Das Talent des Sohnes eines Lauten- und Streichinstrumentenbauers wurde vom damaligen russischen Botschafter in Sachsen, dem Reichsgrafen Hermann Carl von Keyserlingk (1696-1764) entdeckt, der den etwa Zehnjährigen nach Leipzig zu Johann Sebastian Bach (1685-1750) brachte. Bach betreute ihn fast zehn Jahre gemeinsam mit dem älteren Bach-Sohn Wilhelm Friedemann (710-1784). Wegen Goldbergs Gabe, schwierigste Partituren vom Blatt zu spielen, seiner spielerischen Präzision und seines hohen Improvisationsvermögens, erachtete ihn Bach als seinen begabtesten Schüler.
Der als Begründer der historischen Musikwissenschaften geltende Johann Nikolaus Forkel (1749-1818) und Verfasser der ersten Bach-Biografie (1802) hat es in die Welt gesetzt: die berühmten dreißig Variationen seien 1741 auf Bitten Keyserlinks für Goldberg geschrieben worden, damit dieser die schlaflosen Nächte des Botschafters ein wenig aufheitern könne. Goldberg hat tatsächlich des Nachts in einem Vorzimmer Keyserlingk vorgespielt. Aber was er spielte, und ob die Variationen der „Aria“ dabei waren, ist nicht belegt. Später haben Spötter aus dem Vorspielen das Einschlafmittel des Reichsgrafen gemacht.
Johann Gottlieb Goldberg war indes bereits an Tuberkulose erkrankt und 1756 im Alter von 29 Jahren in Dresden verstorben.
Über das „was“, „wann“, „wo“ der dreißig Variationen bleiben für die Musikwissenschaft noch viele offene Fragen. Bis zur Vermutung, dass Johann Sebastian Bach nicht der Urheber der einleitenden langsam schreitenden „Aria“ sei, scheint alles erlaubt.
Eventuell stimmt doch, dass das gewaltige „BWV 988“ im Ursprung eine „Clavier Übung bestehend aus einer ARIA mitverschiedenen Veränderungen vors Clavicimbal mit 2 Manualen“, war, die Bach selbst im Jahre 1741 drucken ließ, deren Urschrift aber noch immer verschollen bleibt.
Aber ist das Alles wichtig?
Der Titel „Goldberg-Variationen“ für „das gewaltigste Variationswerk“ hat sich erst seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts auf Forkels Initiative hin eingeprägt.
Als 2004 Christoph Eschenbach den chinesischen Pianisten Lang Lang (*1982) zum ersten Mal nach Bad Kissingen brachte, war er in Deutschland noch kaum bekannt. Die umtriebige damalige Intendantin des „Kissinger Sommers“ Kari Kahl-Wolfsjäger organisierte, zumindest in unserer verklärten Erinnerung, an jedem Abend, dass Mitwirkende der Konzerte mit Mitgliedern des Fördervereins zum Gedankenaustausch zusammen kamen. Bei dieser Gelegenheit konnten wir nach seinem tollen Einstandskonzert mit dem etwas unsicheren jungen Mann ob des beiderseitig schlechten Englisch gut kommunizieren.
Dank einer fast familiären Beziehung zur Frau Kahl-Wolfsjäger ist der Pianist bis zum Ende der außergewöhnlichen Intendanz der Musikmanagerin 2016 trotz seiner Weltkarriere in jedem Jahr in Bad Kissingen zu Gast gewesen.
Inzwischen polarisiert er auch die Klassikwelt, vermutlich ohne es zu wollen. Viele sehen in ihm den Pop-Star, den Showman, der die europäische Musik nur oberflächlich verinnerlicht habe. Da hilft auch seine Plattenfirma DG ordentlich nach, wenn sie ihn zum Überpianisten und Tasten-Titanen stilisiert. Wir attestieren ihm aber unbedingt, dass er neben seiner nie umstrittenen technischen Brillanz inzwischen einen von echter Empathie geprägten Zugang zur westlichen Musik vom Barock bis zur Klassik gefunden hat.
Das Notenmaterial der Goldberg-Variationen habe Lang Lang jahrelang studiert und sich viele Gedanken über eine eigene Herangehensweise zu den Tempi, Modulationen, zum Pedalgebrauch und zu den Lautstärken gemacht, ehe er im Alter von 38 Jahren zwei zum Teil eigenwillige Einspielungen vorlegte, einmal im Studio aufgenommen und das andere Mal als Liveaufzeichnung eines Konzertes in der Thomaskirche zu Leipzig.
In einem Konzert am 3. November 2021 stellte Lang Lang „seine Goldberg-Variationen“ im großen Auditorium des Konzertsaales im Kulturpalast dem Dresdner Konzertpublikum vor.
Nachdem der Pianist sein Publikum mit Robert Schumann s Arabeske op. 18 unspektakulär, fast beiläufig, auf das Hören eingestimmt und sich selbst für das Spielen aufgewärmt hatte, legte er mit der Aria los.
Auffallend war vom ersten Anschlag die fröhliche Grundstimmung der Darbietung dieses anspruchsvollsten Schlüsselwerkes des 18. Jahrhunderts. Lang Lang nahm uns in Johann Sebastian Bachs Räume mit, in denen wir uns mal flott schreitend, mal gemächlich verharrend, aber immer staunend umsehen durften.
Für viele Kritiker sind Lang Lang s Goldberg-Variationen mit seinen äußerst subjektiv artikulierten, zum Teil extrem langsam und den zum Teil sehr schnell gespielten Stücken, Anlass zum Verriss. Seine oft schroffen Tempi-Wechsel machten den Vortrag indes richtig lebendig, haben zumindest mir zugesagt. Doch ich möchte mich dem Vorwurf, Lang Langs Demut vor dem Werk sei gespielt, nicht anschließen.
Ich möchte nicht behaupten, dass sich mir mit dem Abend der hochkomplexe Aufbau Bachs freier Phantasie- und Gedankenwelten bis ins Letzte erschlossen habe. Dazu fehlt mir die Kompetenz. Aber wie der Pianist die im Stück verborgenen Möglichkeiten farbenreich-differenziert auffächerte, auch immer eine hohe Spannung sicherte, war erkennbar. Da war nicht der geringste Anklang an „Keyserlinks Schlafmittel“ zu spüren.
Wer Show erwartet hatte, blieb enttäuscht.
Spontan stehender Applaus der 2400 Hörer löste nach knapp neunzig Minuten die Anspannung.
Seit den „Gurre-Liedern“ im März 2020 war dieser 3G-Abend unser erster Konzertbesuch in einem vollständig besetzten Saal.
Bildrechte: Alegria Konzert © Olaf Heine
Thomas Thielemann, 5.11.2021