Gelsenkirchen: „Dialogues des Carmélites“

Premiere: 27.01.2018

Poulencs

Eindrucksvolle Schattenspiele

Lieber Opernfreund-Freund,

die Wege der Spielzeitplaner sind manchmal unergründlich und so haben wir in diesem Jahr gleich viermal die Möglichkeit, Poulencs Nonnenepos „Dialoges des Carmélites“ – eigentlich nicht unbedingt Teil des Standardreportoires – in Neuproduktionen auf deutschen Bühnen zu erleben. Neben den Häusern in Nordhausen, Aachen und Hannover beschäftigt sich auch das dem Vernehmen nach schönste Opernhaus im Revier mit dem Werk und hat die eindrucksvolle Produktion in Gelsenkirchen gestern erfolgreich aus der Taufe gehoben.

Die Hinrichtung von 16 Ordensfrauen am 17. Juli 1794 in Paris ist verbürgt. Die Nonnen des Karmelklosters in Compiégne hatten sich dem Versammlungsverbot widersetzt und sich trotz Auflösung ihres Klosters weiterhin zu Gebet und Messe getroffen. Berichtet wird, dass die Frauen „Salve regina“ singend zum Schaffott gestiegen sind. Sie wurden 1906 selig gesprochen. Anfang der 1930er Jahre ersann die Schriftstellerin Gertrud von Le Fort die Figur der Blanche zu diesem historischen Ereignis hinzu und setzte deren Ängste ins Zentrum ihrer Novelle „Die Letzte am Schaffott“. Rund 25 Jahre später nimmt sich der extrem gläubige Francis Poulenc nun diese Geschichte zum Vorbild für das Auftragswerk, das er für die Mailänder Scala schreibt und das dort 1957 in italienischer Sprache uraufgeführt wird. Den eher sperrigen Titel „Gespräche der Karmeliterinnen“ hatte das Werk erhalten, weil die Geschichte im Wesentlichen über Dialoge der Ordensfrauen untereinander vorangetrieben wird und in einem kollektiven Gespräch mit Gott, dem gesungenen Gebet „Salve regina“, endet, das Francis Poulenc mittels genialer Tonsprache und Dramaturgie als einzigartiges Gänsehautfinale komponiert hat.

Die Verantwortlichen des MiR haben Ben Baur mit der szenischen Realisation des Werks betraut und das erweist sich als Glücksfall. Baur gelingt eine nahezu kammerspielartige Umsetzung in Form einer Rückblende, denn ehe die Musik erklingt, läuft eine Szene in der zusammengestürzten Bibliothek von Blanches einstigem Zuhause ab, die sich in gleicher Form am Ende des zweiten Tableaus des letzten Aktes wiederholen wird. Die Klostergemeinschaft an sich tritt erst ab dem zweiten Akt körperlich in Erscheinung, bis dahin spielt sich alles in einer Art Kabinett ab, das sowohl als Bibliothek im hochherrschaftlichen Elternhaus Blanches alsauch später als Karmel dient, wenn sich die Raumteile immer wieder neu zusammen setzen. Baur, der auch für den genial wandelbaren Bühnenaufbau verantwortlich zeichnet, erschafft so immer wieder eine neue Art der Enge, aus der Blanche bis zum Schluss kein Entrinnen gelingt. Figuren der Nebenhandlung, Erinnerungen und auch Blanches Ängste werden immer wieder als überdimensionale Schatten an die Wändes des Kabinetts projeziert. Das ist so einfach wie effektvoll. Kevin Graber hat diese spannenden Videos erstellt, Andreas Gutzmer sorgt für das dazu fein abgestimmte Licht. Auch den musikalisch imposanten Schluss lässt der kluge Regisseur für sich wirken und versucht nicht, mit blutgetränktem Hinrichtungseffekt zusätzliche Dramatik zu erzeugen, sondern belässt es bei einer so stillen wie eindruckvollen Geste.

Eindrucksvoll sind auch die Sängerinnen auf der Bühne. Bele Kumberger legt die angstbeladene Blanche weniger als schüchtern-ängstliches Mädchen, denn als reifen Charakter an, der unter Phobien leidet. Ihr kräftiger Sopran ist dabei so wandlungs- wie ausdrucksfähig und so gelingt eine mehr als überzeugende Darstellung. Noriko Ogawa-Yatake wirkt für die alte Priorin zu jung und auch ihre Stimme, irgendwo zwischen Sopran und Mezzo, klingt beinahe zu frisch für jemanden, der dem Tode näher ist als dem Leben. Doch vor allem mit ihrem intensiven Spiel macht sie das vergessen, so dass die Japanierin den Charakter ihrer Figur bravourös und stimmig zeichnet. Almuth Herbst ist eine kraftvolle und auf ganzer Linie packend und mitreißend spielende und singende Mère Marie, deren facettenreicher Sopran die Rolle mit all ihren Schattierungen formt. Sie ist unterwürfige Nonne und mitfühlende mütterliche Freundin sowie ebenso überzeugend enttäuscht-neidische Rivalin der neuen Priorin. Die wird von Petra Schmidt zwar solide, doch da und dort ein wenig zu zart gestaltet. Dongmin Lee gibt den quirligen, stets gut gelaunten Sonnenschein Constance mit geschmeidig-zarter Stimme voll tiefem Ausdruck und Ibrahim Yesilay ist mit seinem feinen und klaren Tenor wie gemacht für Blanches Bruder, den Chevalier de la Force. Nicht uneingeschränkt zufrieden bin ich hingegen mit den kleineren Herrenrollen. Piotr Prochera weiß bei seiner Zeichnung des Marquis de la Force offensichtlich nicht so ganz, ob er gestrenger oder gütiger Vater sein soll. Edward Lee ist als Beichtvater stimmlich und darstellerisch eher Aushilfsmesner und für die Verlesung des Todesurteils hätte ich mir mehr stimmliche Wucht gewünscht, als Zhive Kremshovski sie mitbringt. Aber das alles ist Jammern auf hohem Niveau. Blendend besetzt und stimmlich auf der Höhe sind hingegen nicht nur alle weiteren Solistinnen, sondern auch der von Alexander Eberle vorbereitete Chor.

Rasmus Baumann führt die Neue Philharmonie Westfalen sicher durch die vielschichtige Partitur Poulencs und ist dabei nicht zu sehr an einer klanglichen Verschmelzung gelegen. Vielmehr betont er die Eigenständigkeit der einzelnen Instrumentengruppen und unterstricht so den bisweilen beinahe fugenartigen Kompositionsstil des Franzosen. In den instrumentalen Zwischenspielen setzte er kluge Akzente und ist auch dem Sängerpersonal auf der Bühne ein verlässlicher Partner. So wird es ein großartiger Musiktheater-Abend, der zeigt, dass auch ein reduziertes Kammerspiel den Geist des Werkes wahrlich imposant umsetzen kann. Dem Publikum im nicht voll besetzten Haus hats gefallen und auch von mir gibt es eine uneingeschränkte Empfehlung. Gleichzeitig bin ich gespannt, was die anderen drei Häuser dieser umwerfenden Prduktion entgegensetzen und freue mich darauf, Ihnen bald davon zu berichten.

Ihr Jochen Rüth / 28.01.2018

Die Fotos stammen von Karl und Monika Forster.