Premiere am 6.3.2016
Im Apfel war ein Wurm
Rossinis letzte Oper “Guillaume Tell”, die als eines der ersten Werke der später von Meyerbeer fortgeführten Gattung “Grand opéra” gilt, hatte in Hamburg in einer Inszenierung des aus der Schweiz stammenden Regisseurs Roger Vontobel Premiere. Den “Tell” gab es in Hamburg zuletzt 1980, damals aber nur in konzertanter Form. Zur Besetzung gehörten Giuseppe Taddei als Tell, Teresa Zylis-Gara als Mathilde und Franco Bonisolli als Arnold. Die letzte szenische Produktion war im Jahr 1915 (“Zum Geburtstag Sr. Majestät des Kaisers”!). Umso willkommener also die Neubegegnung mit Rossinis Oper, auch wenn sie etwas gekürzt war.
Das Einheitsbühnenbild (von Muriel Gerstner) war geprägt von der Nachbildung eines Panoramabilds, nämlich “Die Einmütigkeit” (auch als “Der Schwur” bekannt) von Ferdinand Hodler. Das Original hängt im Rathaus von Hannover und zeigt Dietrich Arnsborg, der die Bürger schwören ließ, zu den Reformationen Luthers zu stehen. Auch im “Tell gibt es ja den berühmten Rütlischwur…
Aber zunächst ist das Bild, das erst bei besagtem Rütlischwur in ganzer Pracht zu sehen ist, noch verhüllt, weil Wilhelm Tell sich daran als Restaurator betätigt. Er ist ein Maler – seine Waffe ist der Pinsel und erst in zweiter Linie die Armbrust. Das ist zwar ein origineller Ansatz des Regisseurs, kann aber in der Umsetzung trotzdem über weite Strecken nicht überzeugen. Das geht schon bei der Ouvertüre los, bei dem mit Beginn des Marschthemas die sternhagelvolle Dorfgesellschaft auf die Bühne stürmt und völlig übertrieben Party feiert. Soviel Bewegung gibt es selten an diesem Abend, oft stehen die Protagonisten nur an der Rampe. Statische Bilder überwiegen – oder kitschige, etwa wenn zum nächtlichen Liebesduett von Mathilde und Arnold in blauem Dämmerlicht auch noch Schneeflocken vom Himmel fallen.
Auch die Schlußszene gehört dazu, bei der sich Arnold und Mathilde plakativ und stellvertretend für eine generelle Versöhnung die Hand reichen. Ansonsten hüllt Vontobel die Bühne gern in Nebelschwaden ein, durch die die Verschwörer mit Taschenlampen irren. Ein eher unfreiwillig komischer Einfall war es, den ermordeten Melchthal (Kristinn Sigmundsson) sich wieder von der Bahre erheben und fortan blutverschmiert wie einen Zombie über die Bühne tapern zu lassen. Eine andere Frage ist, ob man das pure Pathos, das zweifellos im Werk enthalten ist, heute noch so ungebrochen und mit zum Himmel gereckten Armen auf die Bühne bringen kann. Immerhin läßt Vontobel bei allem Hass, mit dem die feindlichen Parteien sich begegnen, doch humamitäre Anklänge gelten. Wenn Gessler unbarmherzig auf dem Apfelschuß besteht, zieht die Hälfte seiner schwerbewaffneten Soldateska die Uniform aus und legt die Waffen nieder. Das war eine gelungene und spannende Szene. Das Volk stürzt anschließend Gesslers Aussichtspodest um. Dann werden Gessler und seine Mannen umgebracht, allerdings nicht mit dem Dolch sondern mit roten Farbpinseln. Eine Metapher für den Sieg der Kunst? In Hamburg gab es zumindest einen Sieg der Musik. Die lag in den Händen von Altmeister Gabriele Ferro am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters, der Rossinis herrliche Musik mit breitem Pinselstrich zelebrierte, um bei dem Bild zu bleiben. Seine Rossini-Erfahrung war spürbar.
Allein, wie er die prachtvollen Chortableaus herausarbeitete, hatte großes Format. Ein erheblicher Anteil daran ist auch dem Chordirektor Eberhard Friedrich zuzuschreiben, der seine Sängerinnen und Sänger einmal mehr mit gewohnter Qualität vorbreitet hat. Das sängerische Niveau bei den Solisten bestimmten vor allem die chinesische Sopranistin Guanqun Yu als Mathilde und der koreanische Tenor Yosep Kang als Arnold. Yu begeisterte mit schönen Linien, einer in allen Lagen rund und warm klingenden Stimme und sehr engagierter Darstellung. Sie sang sich als verzweifelt Liebende fast die Seele aus dem Leib. Auch Kang war als Arnoldo mit seinem schlanken Tenor, der trotz der riesigen Partie keine Ermüdung zeigte und den er sicher in höchste Höhen führte, ohne jemals ins Falsett zu gleiten, eine Idealbesetzung. Das kann man von Sergei Leiferkus in der Titelpartie leider nicht mehr behaupten. Die Stimme des verdienten Sängers hat zwar noch Kraft und Volumen, aber inzwischen doch auch ein paar Scharten bekommen. Und als Figur wirkte er in seiner Darstellung vielleicht etwas zu “großväterlich”. Gleichwohl – mit seiner Arie “Sois immobile” konnte er dennoch tief berühren.
Sein Gegenspieler Gessler war bei Vladimir Baykov bestens aufgehoben, der einen klassischen Opernschurken bester Art mit virilem Bariton gab. Christina Gansch konnte mit silberhell-unschuldigem Sopran als Tells Sohn Gemmy die Herzen im Sturm erobern. In weiteren Partien waren Jürgen Sacher (Rudolph der Harras), Alin Anca (Walther Fürst) und Katja Pieweck (Hedwig) zu hören. Begeisterter Beifall für die musikalische Seite, erhebliche Buhrufe für die Regie. Bei Schneewittchen war der Apfel vergiftet, bei “Guillaume Tell” war er es zwar nicht, aber der Wurm war schon drin.
Wolfgang Denker, 7.3.2016
Fotos von Brinkhoff / Mögenburg