Premiere: 12.10. 2019. Besuchte Vorstellung: 16.10. 2019
Was unterscheidet die sog. veristische Oper von anderen Opern? Einzig die Tatsache, dass die Sterbenden keine langen Abschiedsarien mehr singen – das war es auch schon. Der Begriff der „veristischen“ Oper, die angeblich besonders realitätsnah ist, sollte endlich zu den Akten gelegt werden. Es ist schließlich kein Zufall, dass so ziemlich alle „veristischen“ Opern nicht im bäuerlichen Milieu spielen (so wie die beiden oft gekoppelten Kurzwerke), sondern in gleichsam höheren Sphären: Tosca, André Chenier und Adriana Lecouvreur… Mag sein, dass „Cavalleria rusticana“ in die Schublade des Realismus und „I pagliacci“ in die des Naturalismus gepackt werden kann (als habe Gerhart Hauptmann die Geschichte vom ausrastenden Komödianten entworfen) – in einer echt veristischen Oper dürfte streng genommen nicht einmal gesungen werden.
Jede Konzeption von modernen Aufführungen dieser beiden Opern hat es mit dem Problem der Anbindung an die Gegenwart zu tun. Darin unterscheidet sich „I pagliacci“ nicht von „Le nozze di Figaro“, denn auch Leoncavallos Oper spielt in einem nichtmodernen Milieu, das unserer sozialen Erfahrung weit entrückt ist. In dem kalabrischen Dorf gibt es eben kein Staatstheater und kein Fernsehen, auch kein Internet, das die Informationen und das Theater der Gegenwart den Einwohnern einmal jährlich bringt. Wo also spielen diese beiden Opern in Kassel? Sie spielen im von Herbert Murauer entworfenen Kunstraum einer Einheitsbühne mit Erinnerungen an die italienische Wirklichkeit und Filmfiktion: „Cavalleria“ arbeitet, wie die „Pagliacci“, mit einer intimen Vorder- und großen Hauptszene, setzt zudem in erhöhtem Maße Videoprojektionen und Live-Einspielungen der Protagonisten ein. Gut! Denn so können selbst die Zuschauer vom Rang aus die emotionalen Spannungen beobachten, die sich in den Gesichtern der Figuren abzeichnen. Wir sehen also das Lächeln, das sich allmählich in den Gesichtern von Santuzza und Turridu abzeichnet, nachdem sie sich ihre fatalen Worte an den Kopf geworfen haben – wenn Lola hinter der Szene ihr beziehungsreiches Liedchen singt und gleich in überdeutlichem Rot auftreten und die beiden gleichsam stören wird.
Für den Regisseur Tobias Thorell ist die Geschichte von Santuzza und Turridu, Lola und Alfio und Mamma Lucia zudem eine Passionsgeschichte. Laufen schon die Figuren der Aufführung, die am Ostersonntag stattfinden soll, über die Bühne, imaginiert sich Santuzza in die Gestalt der von sieben Schwertern durchbohrten und blutige Tränen weinenden Muttergottes hinein; das schwarzweiße Filmbild transportiert den Neorealismus ins Fantastische. Fantastisch ist auch Santuzzas Wunschtraum eines geglückten Zusammenleben mit Turridu und all den anderen Protagonisten der sizilianischen Tragödie. Während sie, das Opfer ihrer Gefühle, nach der Auseinandersetzung mit dem einstigen Geliebten im Intermezzo wie versteinert auf einem Stuhl sitzt, sehen wir zugleich, wie die Mamma den beiden glücklichen Paaren Kaffee einschenkt. Über allen aber strahlt manchmal, zwischen den seitlichen Kabinenein- und ausgängen, der Himmel einer Barockkirche, unter dem die „Gesellschaft“, die doch von allen intimen Auseinandersetzungen ausgeschlossen ist, die Stühle durcheinander schiebt, die der Mesner gerade erst für die Messe mühselig geordnet hat. Der kleine Engel, der im Vorspiel noch Santuzza beobachtet hat, ist da schon längst verschwunden.
Der schöne Symbolismus der Aufführung, dem der Realismus der zwangsläufig ins Blutige abdriftenden Handlung zugeordnet wurde, findet leider nicht ganz im Musikalischen eine Entsprechung. Die Schwachstelle dieser Abends liegt im Tenor. Der Turridu des Gasts Marius Vlad verfügt nämlich leider nur über einen sehr engen und gepressten Ton, der indes für den Canio zwar nicht schön, doch immerhin charakteristisch klingt. Erstaunlich angesichts der Tatsache, dass sich die Tessitura des Turridu vor allem in der Mittellage bewegt. Dafür glänzt Khatuna Mikaberidze als lyrisch angelegte, doch dramatisch-schmerzhaftes Melos nicht scheuende Santuzza – so wie später die exzellente Ani Yorentz als Nedda. „I Pagliacci“ spielt, deutlicher noch als es in „Cavalleria“ sichtbar war, mit der Metapher des Theaters auf dem Theater – logisch, doch wird die Idee erweitert. Dass der Prolog von einem Akteur gesungen wird, der vorher durchs Parkett ging und sich an der Garderobe auf der Bühne auf der Bühne geschminkt hat, ist business as usual, doch wenn am Ende der Vorhang auf der Bühne fällt, der, wie in „Cavalleria“, die Vorderbühne von der Hauptbühne trennte und schließlich nur Nedda hinter demselben tot liegenbleibt, während Silvio, der in einem Spiel im Spiel im Spiel agierte, übrig ist, weil er eben nur spielte, haben wir es mit einer reizvollen und durchaus originellen Bestätigung des Satzes zu tun, dass eh alles nur Theater ist: selbst der „Tod“, selbst das „Leben“ auf der Bühne. Soviel zur „Wahrheit“, die in einer Oper (angeblich) komponiert wurde.
Die Schülerinnen, die hinter dem Rezensenten saßen, mögen dieses hintersinnige Spiel nicht ganz begriffen haben. Es verschlägt nichts, denn wichtiger ist die Tatsache, dass das Jugendabo fleißig in den Reihen vertreten war und die 16-17jährige, die hinter mir saß, beim Auftreten der Komödianten und dem Einsatz des guten Kasseler Opernchors (geleitet von Marco Zeiser Celesti) und des Jugendchors namens Cantamus-Chor große, begeisterte Augen machte. Und wenn, hier wie in „Cavalleria“, Gregory Peck als trauriger Held eines „Roman Holiday“ Audrey Hepburn im Arm hat und in Zeitlupe und immer wieder küsst, bleibt eh kein Auge trocken… Auch nicht, wenn der hervorragende Hansung Yoo als Tonio und als präpotenter Alfio, der eine Reihe von Choristen brutal beherrscht, baritonal glänzt. Der Gast Nikola Diskic spielt hingegen einen eher blassen, nicht besonders ausdrucksstarken Silvio und Inna Kalinina eine vokal zurückhaltende, aber szenisch überzeugende Mamma Lucia. Das Orchester aber darf unter der subtilen Leitung von Mario Hartmuth sowohl die lyrisch-pastosen Seiten der „Cavalleria“ als auch die drastischen, klangkoloristisch brillanten Passagen der „Pagliacci“ optimal herausspielen.
Wann spielen die Opern? Wenn sie im Zwischenraum von Theater und „Wirklichkeit“ so bildmächtig, vokal meist sehr gut und schauspielerisch intensiv gebracht werden, muss die Frage glücklicherweise nicht genau beantwortet werden – und ist es nicht so, dass die Affekte, von denen die Figuren besessen sind, tatsächlich zeitlos scheinen?
Frank Piontek, 18.10. 2019
Fotos: ©Nils Klinger