Kassel: „Die Walküre“

Premiere: 9.3.2019. Besuchte Aufführung: 28.4.2019

TRAILER

Oder anders: Die Halbschwester der Walküre

Nadja Stefanoff: Der Name muss zuerst genannt werden – denn sie packt den Hörer und Zuschauer vom ersten Moment an. Sie ist eine Sieglinde, wie sie sein soll: extrem wortverständlich und dramatisch vollkommen, innig und hysterisch, intelligent und verzweifelt, mit einem Wort: Nadja Stefanoff ist – das geht nicht gegen die anderen Sängerinnen, die an diesem Abend auf der Bühne stehen – die Königin des Abends. „Sie muss schlank und tüchtig sein“, schrieb der Komponist am 2. Januar 1875 an seinen Mannheimer Paladin Emil Heckel über die Darstellerin der Sieglinde – Nadja Stefanoff ist all das. Sie wirft sich mit einer niemals überagierenden Inbrunst, die man selbst in guten Aufführungen nur selten sieht, in die Rolle. Zusammen mit Martin Ilievs Siegmund ist sie die Frau im Dreamteam der Wälsungentragödie. Das „W“, das sich als Neonskulptur durch diesen „Ring“ zieht, heißt nicht allein „Wotan“, „Walhall“, „Weltherrschaft“, „Wagner“, „Walküre“ oder „Weh“. Es heißt, mit Blick auf die starken Frauen und Sängerinnen dieser hinreißenden „Walküre“-Aufführung, zuallererst „Weib“ und „Wonne“. Denn zärtlicher und erotischer kann man und frau die Begegnung und die aufkeimende amor fou zwischen Siegmund und Sieglinde nicht zeigen. Verzweifelter und sensibler kann die Flucht der beiden nicht ausgemalt werden.

Selten habe ich die Todverkündigung so spannungsvoll und, ja: so schön und innig erlebt: denn Brünnhilde steht im Rücken der Zuschauer, auf dem dunklen Rang, während wie minutenlang dem in mystisches Licht getauchten Geschwisterpaar dabei zusehen, wie schauspielerisch diffizil es auf die Ankündigung reagiert. Und was macht die nicht angesprochene Schwester? Sie flüstert dem Bruder die Fragen No. 2 und 3 ins Ohr. Sinkt sie schließlich wieder in Schlaf, so erwacht sie panisch, als ihr Geliebter ihr das Schwert an den Hals legt, womit ihr nächstes Trauma schon in Anmarsch ist. Muss man sich wirklich darüber wundern, dass Sieglinde bei der Geburt des Sohnes sterben wirdt? Und schließlich: Nadja Stefanoff singt die Hochzeits-Erzählung wie ein dramatisches Lied: glasklar, bewegt und schier bewegend. Dagegen schmiert – pardon – selbst die Version der wunderbaren Jeannine Altmeyer ab, die im Film der zurecht legendären Chéreau-Inszenierung festgehalten wurde. Respekt für diese AUSSERGEWÖHNLICHE Leistung, die doch, siehe Wagners Ansprüche an eine intelligente Sänger/Darstellerin, der Normalfall sein sollte. Voilà, wir waren dabei: beim Musik-Drama.

Markus Dietz, Oberspielleiter am Kasseler Schauspiel, hat nun, mit mehr Glück als beim bereits beachtlichen, also typischen Kasseler „Rheingold“, seine Spieler zu Höchstleistungen animiert, die diesen Abend so kurzweilig machen. Apropos „Konzept“: Es besteht, darauf verweisen schon die „Notizen zur Kasseler Neuinszenierung“, die im Programmheft nur wenig mehr als eine bekannte Interpretation des Stoffs bringen, weniger in irgend einer mehr oder weniger blödsinnigen „Neudeutung“ oder „Befragung“ als in einer handwerklich sauberen und genauen Erzählung dessen, was jeder „Ring“-Kenner kennt: was kein Manko ist. Bewegen wir uns auf der Bühne von einem fast leeren Raum, der aseptischen Hunding-Halle, über den im 2. Akt ausgebrannten Saal in den Schluss-Akt, in dem die Hubpodien und das große leuchtende „W“ die von Mayke Hegger entworfene Bühne strukturieren, so ziehen wir mit den Protagonisten durch einen zerstörten Kriegsraum, bis wir im Abstrakten eines märchenhaften Feuerzaubers landen. Dies ist die deutlichste Setzung der Interpretation: „Die Walküre“ muss als ein Drama in Zeiten des Krieges verstanden werde – zuallererst als ein Krieg Mann gegen Frau. Im Vorspiel überwältigen acht schwarze Hundings-Männer eine leicht- und weißgekleidete Frau, eine Schwester Sieglindes; als Hunding seine Geschichte erzählt, legen sie – das ist überflüssig verdoppelnd und doch stark, den toten blutigen Körper der Frau, der Mutter auf den Tisch. Es geht, darauf basierend, weiter: Ehemann gegen Liebhaber, Ehemann gegen Ehefrau (und dies gleich zweimal: Hunding gegen Sieglinde, Wotan gegen Fricka), Vater gegen Tochter, der Gott gegen den Zwerg… Hier röhrt nicht nur Hundings Bass, hier röhrt auch eine schwere Maschine.

Schon die Walküren des letzten Kasseler „Ring“ kamen auf Motorrädern auf die Bühne, um in den Winterkrieg zu fahren., Endstation Stalingrad. Nun sitzt Fricka auf dem Teil, vor ihr der Fahrer, der offensichtlich auch ihr Lover ist: eine zart dröhnende und durchaus witzige Hommage an Michael Leinerts wichtigem und konzeptionell hervorragendem „Ring“ – und eine Möglichkeit, ein aufgetuntes Widdergespann auf die Bühne zu bringen, von dem, glaube ich, nicht nicht einmal diejenigen Zuschauer träumen, die glauben, dass so etwas wie „Werktreue“ im Sinne des Wagner des 19. Jahrhunderts heute noch möglich ist. Abschliffe, an die der Zuschauer sich nicht gewöhnen sollte, sind natürlich dort vorprogrammiert, wo eine altgermanische Waffe in der Wand eines Lofts, in dem der Blick zunächst auf die bunten Alkoholika in einer glaslosen Lichtvitrine fällt, so absurd ist wie der Kampf eines Jagdwaffenbesitzers mit einem Schwertträger. Aber was soll ein Regisseur auch machen, wenn er nicht ausschließlich auf Waffen der Gegenwart zurückgreifen will und kann? Woe Gertrude Stein schon so schön sagte: Ein Schwert ist ein Schwert ist ein Schwert. Immerhin wird im nächtlichen Kampf, der tatsächlich, Sieglinde sagt’s ja, im Dunkel vor sich geht, ein abstraktes Lichtschwert und ein Lichtspeer eingesetzt: was vermutlich als Zitat aus der Popkultur des Fantasy-Films gedeutet werden darf.

Die typischen Probleme der Wagner-Regie, sie scheinen auch in Kassel unlösbar zu sein. Der Zuschauer vergisst sie schnell, wenn prägnante Sänger und Darsteller auf einer Bühne stehen, die das Drama unterstützt und nicht mit einer willkürlichen Meta-Ebene zubaut. Werden Ulrike Schneide r (Fricka) und Nancy Weißbach (Brünnhilde) als indisponiert angekündigt, so kann der Hörer sich nur die Ohren reiben: Beide singen so, wie man es aus Kassel gewöhnt ist. Ulrike Schneider scheint die dramatisch konturierte Partie der Walküre-Fricka wesentlich besser zu liegen als die des „Rheingolds“ (aber vielleicht hatte sie letztens auch nur einen schwachen Abend), und Nancy Weißbach ist ganz Wotanstochter und herzhaft mitleidende Halbschwester und kommt gut durch die technisch höchst anspruchsvolle Partie.

Die anderen Halbschwestern haben übrigens schon im zweiten Akt, dann wieder am Schluss zu tun. Schon während Wotans Jubelszene begleiten sie, vielleicht ein bisschen zu offensiv anfeuernd, ihren Papa, und schließlich bedecken sie Brünnhilde mit jenem Glanzstoff, den sie schon am schöngewandeten Leib tragen: Sexy Halbgöttinnen, die die zuckenden wilden Kerle wie SM-Ladys am Schnürl führen. Das Oktett hat auch rein akustisch schlicht Klasse: den schick-schönen Kostümen Henrike Brombers und den von Ungenannt hergestellten Masken samt Perücken und gestylten Echthaaren entspricht die selten zu hörende Einträchtigkeit ihrer höchst anspruchsvollen Einsätze. „Nebenrollen“? In der „Walküre“ gibt es sie nicht.

Bleiben die anderen Hauptrollen: Martin Iliev singt einen Siegmund, der in der Artikulation, ein wenig auch im Klang an den großen Kollegen Placido Domingo erinnert, der sich nach 1000 anderen Rollen auch den Siegmund erarbeitet hat. Iliev singt mit einem Ton, den man südamerikanisch nennen möchte: anrührend, heldisch, doch nicht dröhnend, sondern schlicht und einfach potent, im Ganzen immer einen Bogen haltend, immer klanglich gut kontrolliert und zugleich atemstark. Für Statistiker: die Wälse-Rufe dauerten sechs bis sieben Sekunden (und klangen nicht angestrengt). Großartig, weil stahlklar, fokussiert, also durchaus nicht gottlobfrickig finster und zerknautscht: der eher zynisch als brutal auftretende Hunding des Yorck Felix Speer; man darf sich auf seinen Hagen freuen. Bleibt Robert Bork als Wotan. Spielen kann dieser gute Sänger, dem drei Gesten zur Verfügung stehen (1. Kleine Bewegung mit dem rechten Arm 2. Schaufelbewegung mit dem rechten Arm. 3. Rechte Hand an den Mund), zwar nicht, aber als Ersatz für Egil Silins, der Wotan in dieser „Walküre“ sonst sang, ist er mit seinen 60 Jahren vokal noch so gut bei Kräften, so dass er bis zum Abschied gut bis sehr gut „durchkommt“. Gut ist auch die Idee, ihn und Brümmhilde bei seinem Monolog nicht auf der Bühne, sondern vorn rechts auf dem Orchesterrand zu platzieren, bevor in seinem wütenden Abgang das Motorrad akustisch beeindruckend von der Bühne brummt. Hätte Wagner gewusst, dass es irgend wann einmal solche Klangerzeugungsgeräte gibt, hätte er sicher nicht nur eine Donnermaschine in der „Walküre“-Partitur untergebracht… Ein lieber weißer Hund, irgendetwas zwischen Schäferhund und Colly, hat übrigens im Auftritt der Men in Black, der schon während des Vorspiels erfolgte, nicht nur nach den Leckerli seines Herren geschnappt, sondern auch herzhaft mitgebellt – als wär’s ein Stück aus dem „Tannhäuser“. Und genannt werden MÜSSEN wieder die Statisten, denn sie tun nicht nur als Hundingsmannen, sondern auch als Walkürenopfer und als mystisch beleuchtete nackte Tote aus jenem Jenseits, das Brünnhilde dem Siegmund verheißt, gute Dienste.

So wie das Orchester, das erstrangige Staatsorchester Kassel, das unter dem GMD Francesco Angelico einen Wagner vom Feinsten hervorbringt. Die Kasseler wissen, wie man leiseste Töne produziert, ein samtener Streicherteppich zieht ins Herz hinein, die Tupfer der Klarinette erinnern nicht allein in den „Winterstürmen“ an Mendelssohns Süßklang. Wo der Orchesterklang schlank ist und vom ersten bis zum letzten Takt eines Aktes ein einziger großer Bogen die Spannung hält, wirken die relativ wenigen „lauten“ Stellen umso ergreifender: der blechbläserne, dynamische Höhepunkt des Siegmund-und Sieglinde-Jubels (nach dem Herausziehen des Schwerts) kommt genauso überlegt wie das vergleichsweise vorsichtige, also eben nicht brutale Reiten der Walküren über die Rampe.

Aber gab es diesmal nicht, abgesehen von der erwähnten und offensichtlich kaum vermeidbaren szenischen Absurdität, irgend etwas zu beckmessern? Denn vollkommene „Ring“-Aufführungen sind bekanntlich so selten wie ein geglückter Inzest. Tatsächlich: Der „Wonnemond“ kommt trotz der beiden hervorragenden Sänger und des impressiven Orchesterklangs nicht so, wie er kommen sollte: herzergreifend, rückenmarkerschütternd.

Statt Licht sehen wir, nachdem sich die Rückwand zu einem nachtdunklen Raum gehoben hat, auf die schlafenden Hundingsmänner. Der Effekt bleibt aus: Ich begriff, dass die Utopie der Freiheit nicht im Frühlingsmondlicht steckt, aber ich wurde an dieser Stelle nicht bewegt. Es spricht jedoch für die Güte und den interpretatorischen Glanz dieser spannenden Produktion, dass ein derartiges Versagen die Szene der Aufführung als Ganzes nicht im Geringsten tangiert. Denn ihr gelang der Spagat zwischen einer symbolhaften wie konkreten Optik und einer „normalen“ Erzählung im Lichte unserer Psychologie, wie der Wagnerkenner Thomas Mann vielleicht gesagt hätte. Und Nadja Stefanoff hätte gewiss auch er gelobt.

Frank Piontek, 30.4. 2019

Fotos © Nils Klinger