Was für ein Konzertereignis! Der Hessische Rundfunk hat eindrucksvoll unter Beweis gestellt, warum der 2006 verstorbene österreichisch-ungarische Komponist György Ligeti immer noch zu den Leitsternen der zeitgenössischen Musik zählt. Neben einer geschickten Dramaturgie in der Auswahl und Abfolge der Stücke machte die Präsentation unter Einbeziehung von Live-Videos den fast dreistündigen Abend zu einem kurzweiligen Erlebnis. Die drei Konzertteile waren so aufgebaut, daß sie einen Überblick über das gesamte Schaffen von György Ligeti boten und dabei sehr wirkungsvoll verschiedene Schaffensphasen einander gegenüberstellten. Auf das faszinierende Raumklangerlebnis von klackenden 100 Metronomen in „Poème Symphonique“ im abgedunkelten Saal der Alten Oper folgte nahtlos mit „Atmosphères“ ein Klassiker der Moderne, den das hr-Sinfonieorchester unter Alain Altinoglu sensibel ausleuchtete. Dies wurde kontrastiert mit „Continuum“, einem virtuosen Stück für Cembalo-Solo, das unter den Händen von Mahan Esfahani und akustisch über Lautsprecher verstärkt einen unwiderstehlichen Sog entwickelte. Die Faszination wurde dadurch gesteigert, daß der Hessische Rundfunk, der das Konzert live über seinen YouTube-Kanal streamte, Nahaufnahmen des Cembalisten und seiner flinken Hände auf zwei Manualen auf eine über dem Orchester angebrachte Leinwand projizierte. Auf die filigranen Cembalo-Klänge folgten die gewaltigen Cluster der Orgel in „Volumina“, bei denen sich Altinoglu als Orgelvirtuose entpuppte. Hier gewährten die Videoprojektionen auch aufschlußreiche Einblicke in die Partitur, die Ligeti graphisch wie ein abstraktes modernes Gemälde gestaltet hatte.
Im weiteren Verlauf des Konzerts wurde sogar die vollständige graphische Partitur zu dem rein elektronischen Stück „Artikulation“ eingeblendet, und mit einem sich im Tempo der Musik bewegenden vertikalen Balken der Verlauf zum Mitlesen angezeigt. Ein wahrer Augenschmaus. Wunderbar die Einsätze des Vokalconsorts Berlin, dessen Mitglieder in unterschiedlicher Formation nicht nur mit Ligetis virtuosen Klangkunststücken überzeugten und den langen und reichen Abend mit dem berühmten „Lux aeterna“ ausklingen ließen, sondern in den ersten beiden Konzertteilen auch jeweils einen Satz aus Palestrinas „Missa Papae Marcelli“ stilsicher darboten. So ergaben sich nicht nur Klanginseln im Meer der musikalischen Avantgarde, sondern auch faszinierende Querbezüge von Ligetis Mikropolyphonie zur klassischen Vokalpolyphonie des Renaissance-Meisters. Einen starken Auftritt hatte schließlich Marc Gruber, der Solo-Hornist des Hausorchesters im „Hamburgischen Konzert“.
Der Hessische Rundfunk hat sein Publikum mit dieser Form der Präsentation hingerissen. Die Videoeinblendungen hielten genau die richtige Balance zwischen Unterhaltung und Belehrung. Natürlich bietet die Musik Ligetis dafür auch die perfekte Grundlage: Die Stücke sind sämtlich recht kurz, sehr abwechslungs- und kontrastreich und gelegentlich mit einer Prise Humor gewürzt. Nicht für jeden Komponisten wird eine solche kongeniale Präsentation gelingen. Zu hoffen bleibt aber, daß das hr-Sinfonieorchester mit diesem innovativen Format regelmäßig weitere musikalische Porträts präsentieren und damit insbesondere der musikalischen Moderne ein größeres Publikum erschließen wird. Auf die Frage nach der Notwendigkeit von Rundfunkorchestern hat der Hessische Rundfunk mit diesem Format jedenfalls eine triftige Antwort gegeben.
Michael Demel, 1. April 2023
Nichts geht über ein Live-Erlebnis, aber einen guten Eindruck von diesem außerordentlichen Konzert verschafft der bereits verfügbare Live-Mitschnitt: