Budapest: „Psyché“, Ambroise Thomas

© CNRS/BN, Bibliothèque de l’Opéra.

Von den 19 Opern des damals in Paris hoch angesehenen und sehr erfolgreichen Ambroise
Thomas (1811-1896) kennt man heute nur noch „Mignon“ (1866) und „Hamlet“ (1868).
Während die Shakespeare-Oper (mit Happy End!) noch regelmäßig in Paris gespielt wird
(2018 & 2022 an der Opéra Comique und 2023 an der Pariser Oper), ist die Goethe-Oper
nach „Wilhelm Meister“ in Frankreich schon in Vergessenheit geraten. Dabei war „Mignon“
sein größter Erfolg: zu seinen Lebzeiten wurde sie über 1000-mal an der Opéra Comique
gespielt – bis 1887 während einer Mignon-Vorstellung ein verheerender Brand ausbrach,
wonach die Opéra Comique elf Jahre lang in Ausweichquartieren spielen musste. Seitdem
machen die französischen Intendanten einen großen Bogen um dieses „Unglückswerk“, das viel öfter im deutschsprachigen Raum gespielt wird. Bei „Psyché“ (1857) gab es keinen
Brand, sogar 1878 eine zweite Fassung mit Rezitativen statt gesprochenen Dialogen (wie für „Faust“ von Gounod), um das Werk dem sich ändernden Geschmack und den Anforderungen der Pariser Oper anzupassen. Und mit dem obligatorischen Ballett wurden aus drei Akten dann vier, die in fine dann doch an der Opéra Comique aufgeführt wurden. Wieder einriesiger Erfolg – wenn man der damaligen Presse glauben will (die man fast vollständig auf der Bru Zane Mediabase nachlesen kann). Doch danach wurde das Werk nicht mehr gespielt, was anscheinend hauptsächlich an dem fröhlichen, schon fast schlüpfrigen Libretto lag, das nicht mehr in das Frankreich nach der Niederlage von Sedan (1870) passte – ein Thema worüber wir schon oft bei Offenbach berichtet haben, dessen fröhliche Werke dann plötzlich auch nicht mehr goutiert wurden. Denn bei dieser „Psyché“ geht es um raffinierte, sehr französische leichte Kost: ein spritziges Libretto mit ganz wunderbarer Musik.

© Bru Zane Mediabase

Der antike Mythos von „Amor und Psyche“ wurde in Frankreich ganz anders interpretiert als im deutschsprachigen Raum. Wir sind meilenweit entfernt von zum Beispiel den
tiefgründigen Gedichten von Johann Gottfried Herder „Amor und Psyche auf einem
Grabmahl“ (1800), die durch Goethe und Schiller in Weimar und Tübingen verlegt wurden.
In Frankreich ist das Hauptthema dieses Mythos „volupté“ – bezeichnenderweise das letzte
Wort des Schlusschors -, also Sinnlichkeit, Wollust oder, im heutigen Sprachgebrauch, Sex.
Und da dies anscheinend so etwas wie eine Vollzeitbeschäftigung an den französischen Höfen war, hat Ludwig XIVe persönlich mit seinen Mätressen 1671 in der Tragédie-Ballet „Psyché“ von Molière und Lully getanzt. Hundert Jahre später, immer noch in Versailles, trat Madame de Pompadour auf in dem Ballett „Psyché et l’Amour“ (1762) von Jean-Georges Noverre. Die bis heute bekannteste Darstellung des Mythos in der bildenden Kunst ist die Skulpturengruppe von Antonio Canova „Amor und Psyche“ (1793) im Louvre: ein jungesLiebespaar, das sich hingebungsvoll und hemmungslos umschlingt. Jules Barbier und sein
Mitarbeiter Michel Carré haben mit diesem Stoff eines ihrer besten Libretti geschrieben,
meines Erachtens sehr viel besser als „Mignon“ und „Hamlet“, weil sie hier ganz in ihrem
französischen Element sind. Sie erzählen den antiken Mythos mit vielen kleinen Seitenhieben auf die französische Hofkultur in Versailles (verschleierte Zitate von Molière, La Fontaine, Corneille und Rameau) und auf die neuzeitlichen Jugendlichen, die ihren Eltern nicht mehr gehorchen und ihrem Herzen folgen wollen. Amor ist immer noch der geflügelte Sohn der Göttin Venus, der durch sie in die Welt geschickt wird um für ein bisschen Aufregung und Unordnung zu sorgen. Aber er weigert sich die bildschöne Psyché ins Unglück zu stürzen. Denn Venus ist extrem eifersüchtig und schickt ihren Sohn, damit sich Psyché in einen Stier verliebt und dann auf einen Felsen festgebunden werden soll, damit ein Meerungeheuer sie auffressen kann. Doch Amor verliebt sich (zum ersten Mal!) und gehorcht nicht mehr, was zu einer herrlich heutigen Diskussion führt: „Undankbarer Sohn! – Nein ich bin kein kleiner Junge mehr“, was durch den Götterboten Merkur kommentiert wird: „La reine de Cythère / En secret se désespère / D’avoir un si grand garçon ! / La crainte d’être grand’mère / Donne à Vénus le frisson !“. Also der Ausgangspunkt dieses ganzen Dramas, ist das Venus nicht
Großmutter werden will – das Premierenpublikum hat sich so über diesen Satz amüsiert, dass das Couplet mehrmals wiederholt werden musste. So wird Einiges im antiken Mythos mit französischem „esprit“ durch den Kakao gezogen und wurden fünf spritzige Figuren quasi dazu erfunden: Psyché bekommt wie Aschenbrödel zwei hochnäsige und eifersüchtige Schwestern, Dafné und Bérénice, und zwei aufdringliche und eingebildete Heiratsanwärter, Antinoüs und Gorgias – die zum Trost die beiden Schwestern heiraten dürfen. (Die zukünftigen Ehe-Probleme der beiden werden schon dezent angekündigt.) Die Götter schicken Nachrichten und Befehle vom Olymp, die leider nicht mehr gehört werden, weil die ganze Menschenwelt, ob Hirte oder Nymphe, sich nur noch mit Wein und Wollust
beschäftigt. Doch am Ende springt der Olymp für das junge Paar ein, denn auch der ganze
Himmel zittert vor Liebe: „Le ciel entier frémit d’amour ! / De l’amour et de la beauté, Tu
naîtras, ô reine du monde, Ô volupté !“ – „Aus der Liebe und der Schönheit wirst du geboren werden, Königin der Welt, Oh Wollust“.

© HNP/Szilvia Csibi

Ambroise Thomas komponierte mit diesem Libretto sein meist vollendetes Bühnenwerk das ich nun kenne. Ein wirkliches Juwel, da man spürt wie er sich bei jedem Satz amüsiert und die vielen kleinen feinen Doppelbödigkeiten musikalisch liebevoll umgesetzt hat. Bei „Mignon“ und „Hamlet“ gibt es wunderbare Arien für die Soprane, aber auch einige recht konventionelle Zwischenspiele, Chöre und Tänze, die ihn offensichtlich weniger inspirierten. Hier nicht. Die musikalische Spannung fällt nie ab. Schon die Ouvertüre fängt mit einer symphonischen Naturbeschreibung an (die man beinahe schon mit dem „Freischütz“ vergleichen könnte), bevor man mit Pauken in eine viel dramatische Stimmung kommt, als ob man bei Bellini oder Spontini wäre. Die Chöre sind dagegen ganz und gar französische Romantik und die erste Erwähnung von der aus dem Wasser entstiegenen Göttin („Vénus, fillede l’onde…“) wird durch ein feines Summen des Chores „à bouche fermée“ angekündigt –
sowie einige Jahre später in der berühmten „Méditation“ der „Thaïs“ von Massenet – den
Thomas übrigens für seinen besten Schüler hielt und der viele Stilmittel seines Lehrers
übernommen hat. Komponieren konnte Thomas absolut, deswegen war er auch ein sehr
geschätzter Lehrer am Konservatorium in Paris und ab 1871 sogar Direktor (als Nachfolger
von Cherubini und Auber). Aber ihm wurde eine gewisse Beliebigkeit oder mangelnde
Eigenheit als Komponist vorgeworfen. Davon ist bei „Psyché“ keine Rede: nichts ist
konventionell und die drei Stunden Musik werden nie langweilig, weil Thomas im Orchester
dauernd variiert: erst zupfen die Streicher sanft zu den Gesangslinien, bei der Wiederholung
mit Harfe, dann subtil mit Flöten und Klarinetten – als ob man vor einem schillernden
Meeresspiegel steht. Und gleichzeitig wird in den komischen Passagen das Tempo ordentlich
angezogen und hat man schon fast den Eindruck einen „Galop“ von Offenbach zu hören (der
1857 noch gar nicht als Komponist etabliert war). Diese Stil-Mischung hat sogar dem überaus
strengen Hector Berlioz gefallen, der gar keine komische Ader hatte und sich nur für Goethe
und Shakespeare begeistern konnte. Am Tag nach der Premiere schrieb er im Journal des
Débats eine auffällige Rezension, in der er im Gegensatz zu seinen Kollegen überhaupt nicht
auf die üppige Ausstattung einging („Psyché“ wird in den Geschichtsbüchern der Opéra
Comique hauptsächlich erwähnt wegen der prächtigen Bühnenbilder und Kostüme), sondern
meinte, dass diese die Sänger eigentlich nur störe und diese Musik keine Bebilderung
bräuchte. Wir geben ihm recht.

© HNP/Szilvia Csibi

Die musikalische Umsetzung bei dem von uns besuchten Konzert war vom Allerfeinsten,
schon an die Perfektion grenzend. Es handelte sich ja auch um eine Plattenaufnahme, die das Palazzetto Bru Zane seit vielen Jahren vorbereitet hat – anscheinend seitdem der
künstlerische Direktor Alexandre Dratwicki vor 22 Jahren einen Klavierauszug von
„Psyché“ bei einem Trödler fand und sich für diese Partitur begeisterte. Ursprünglich sollte
Jodie Devos die Titelrolle 2020 in Paris singen, doch dann kam die Pandemie und verstarb
diese wunderbare Sängerin tragisch jung an Krebs – ihr wird nun diese Aufnahme gewidmet. Die gestreckte Vorbereitungszeit und die für ein Konzert unüblich lange Probenzeit hat sich ausgezahlt, da alle singen und spielen (ganz unerwartet gut das ungarische Orchester und Chor!) als ob sie diese Musik schon auswendig kennten. Hélène Guilmette ist als Psyché eine Idealbesetzung und meistert mit ihrem hellen und nicht zu lyrischen Sopran alle Finessen der französischen Gesangstechnik. Man versteht sofort, dass sie sich in den Eros (Amor) von Antoinette Dennefeld verliebt, die als teilweise dramatischer Mezzo auch noch atemberaubende Koloraturen zu singen hat, die mit spontanem Zwischen-Applaus aus dem Saal belohnt wurden. Tassis Christoyannis bekam als Merkur ebenfalls viel Applaus, wegen seiner gesanglichen Leistung und, vor allem, seiner außerordentlichen Komik. Die besaßen auch Artavazd Sargsyan und Philippe Estèphe als Heiratsanwärter Antinoüs und Gorgiasund Mercedes Arcuri und Anna Dowsley als Stutenbissige Schwestern Dafné und Bérénice. Makellos auch Christian Helmer in der kleinen Rolle des Königs (Le Roi).
Besonders begeistert war ich durch das Ungarische Philharmonische Nationalorchester
Nemzeti Fiharmonikus Zenekar und den durch Csaba Somos exzellent vorbereiteten
Ungarischen Nationalen Chor Nemetski Énnekar, die die Nuancen einer opéra-comique de
demi-caractère so fein umsetzten, wie ich es auch in Paris nicht oft höre. Es ist schon ihre
fünfte Zusammenarbeit mit dem Palazzetto Bru Zane und man hört, wie sie sich begeistern
für dieses im Vergleich zu ihrem üblichen Repertoire doch eher fremdländischen Genre.
György Vashegyi dirigiert souverän und gleichzeitig sehr behutsam. Er kennt diese Musik
und, vor allem, er vertraut ihr. Denn wie schon so oft geschrieben, diese Werke funktionieren nur, wenn man genau den richtigen Ton trifft, also immer elegant bleibt und nie zu laut aufdreht. Dann fängt ein Juwel wie diese „Psyché“ von Ambroise Thomas erst an zu funkeln wie ein kostbares Schmuckstück mit vielen kleinen Diamanten in leicht variieren Färbung.
Eine wirkliche Überraschung – wir hatten uns ehrlich gesagt nicht so viel davon erwartet –
und nun sind wir ganz ungeduldig die Aufnahme zu hören.

Waldemar Kamer 21. Februar 2025


Psyché
Ambroise Thomas
Das Müpa in Budapest


Besuchte Vorstellung: 12. Februar 2025
Musikalische Leitung: György Vashegyi
Ungarisches Philharmonisches Nationalorchester & Chor