Buchkritik: „Wagners Welttheater“, Bernd Buchner

Wagner und kein Ende. Wagners Welttheater in Bayreuth zwischen Kunst und Politik

Das Kernproblem aller Wagnerliteratur ist die Tatsache, dass es keinen kontinuierlichen Fortschritt in der Wagnerforschung gibt. Stattdessen werden – selbst von Autoren, die es besser wissen müssten – immer wieder alte Klischees, Vorurteile und Legenden aufgewärmt. Man befleißigt sich bedenkenlos der fragwürdigen Kunst des Weglassens und Hinzufügens. Dabei gilt Wagner „als eine der meistbeschriebenen Persönlichkeiten der Weltgeschichte“, worauf Bernd Buchner in der soeben veröffentlichten, bis zur Gegenwart fortgeschriebenen und erweiterten Neufassung seines erstmals im Wagnerjahr 2013 erschienenen Buchs „Wagners Welttheater“ hinweist.

Obwohl die Auseinandersetzung mit Richard Wagner und seinem Werk schon mehr als hundertfünfzig Jahre andauert, ist sie in vielem so emotional und kontrovers wie eh und je. Was Wunder: Richard Wagner war ohne Frage der schreib-, mitteilungs- und selbsterklärungsfreudigste, essayistisch wie kunsttheoretisch produktivste, schließlich der dezidiert politischste deutsche Komponist des neunzehnten Jahrhunderts. Sein Œuvre ist unter allen nur erdenklichen Aspekten analysiert worden. Musikwissenschaftler, Historiker, Germanisten, Altphilologen und vergleichende Literaturwissenschaftler haben sich mit der Erhellung des künstlerischen und theoretischen Werks, seiner Entstehung, seiner Aufführung und Wirkungsgeschichte, aber auch mit Wagners Biographie befasst. Unmengen biographischer, aber auch journalistischer Veröffentlichungen haben dazu beigetragen, dass die Wagner-Literatur ins Gigantische angewachsen ist. Weit mehr als 100.000 Titel verzeichnet die 2019 von Steffen Prignitz zusammengestellte zweibändige, mehr als1.700 Seiten umfassende Bibliographie zu Leben und Werk Richard Wagners. Darin liest man: Es gibt „Beiträge zur Wagnerforschung in mindestens 35 Sprachen und aus ca. 30 Wissenschaftsdisziplinen.“

Dennoch: Die Wagner-Literatur „schwankt zwischen ausschweifendem Reichtum und irritierenden Erkenntnislücken“, wie Bernd Buchner zurecht konstatiert. Das vielschichtige Phänomen Richard Wagner spiegelt sich zudem widersprüchlich, grenzenlos subjektiv und unkritisch in der Wagnerforschung bzw. Rezeptionsgeschichte schon seiner Zeitgenossen wie der folgenden Generationen. Das besondere Anliegen Buchners: Die „zeitgeschichtliche und kulturhistorische Forschung (hat) sowohl die ideologische Wirkungsgeschichte des Komponisten als auch die politischen Implikationen der Festspiele lange Zeit nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt.“ Trotz der wegweisenden Publikationen von Brigitte Hamann, Joachim Fest, Oswald Georg Bauer, Hubert Kolland, Udo Bermbach und anderer (der Autor kennt die Wagnerliteratur gut) bleibt bis heute eine „politische Festspielgeschichte“ nach wie vor einzulösende Forderung.

Es ist erklärtes Ziel des eindrucksvollen, in zahlreichen Archiven gut recherchierten Buches, diese Forderung einzulösen. Der Autor vermischt „sozial- und kulturpolitische Ansätze“, flicht aber auch „Musik- und theaterpraktische Aspekte“ ein. Er will nicht primär über den Komponisten und den Theatermann Wagner schreiben, der sich paradoxerweise „selbst gar nicht in erster Linie als Musiker verstand, sondern als Schriftsteller und Dramatiker,“ wie Buchner betont. „Er betrachtete das Theater als politische Waffe und benutzte die Tonkunst ‚nur zu seinen Zwecken als gewaltigstes Mittel der Erregung und Wirkung‘ (Alfred Einstein).“ Schon der kritische Wagnerianer Hans Mayer wies darauf hin: Politische Grundanschauungen und musikdramatische Gestaltungen seien ohne einander nicht zu begreifen, künstlerische Form und weltanschaulicher Gehalt bildeten bei Wagner eine Einheit. „Keine Musik ist unpolitisch“, hat zurecht Eckhart John in seinem Buch „Musikbolschewismus“ betont. „Vor allem das Medium Oper ereignet sich niemals im luftleeren Raum“, ergänzte der Musikjournalist Hans-Klaus Jungheinrich. Zumal bei Richard Wagner, der in dem fränkischen „Nest“ (so die Wahnfried-Haushälterin Liselotte Schmitt) einen Ort machte, an dem politische „Weltgeschichte“ geschrieben wurde. Bayreuth, das 2026 sein 150-jähriges Jubiläum begeht und sich „trotz einer künstlerischen Stagnation, über die sich die Fachkritik seit längerem einig ist, … beim Publikum nach wie vor großer Beliebtheit“ erfreut. Bayreuth wurde seinerzeit zu einer moralischen Anstalt, „in der die großen Fragen der Zeit verhandelt“ wurden. Das machte der Politikwissenschaftler Udo Bermbach klar.

Bernd Buchner resümiert: „Die Geschichte Bayreuths ist seitdem zur Wagnergeschichte geworden, zur Festspielgeschichte, auch zu einer Geschichte von politischen Metastasen des Wagnertums. Glanz und Elend der Familie Wagner und der Festspiele wirkten sich aus als Glanz und Elend dieser oberfränkischen Mittelstadt.“ So ist es bis heute.

„Das Verhältnis von Kultur und Politik, mithin von Geist und Macht“ ist denn auch das Thema des Buches. Dass das Bayreuther Unternehmen „mehr war als ein Tempel des Musiktheaters“, sondern „ein Abbild der gesellschaftlichen Zustände in Deutschland“, das will Buchner aufzeigen, denn in der Geschichte des Grünen Hügels spiegele sich die Geschichte des Landes, so schreib schon Udo Bermbach „und die Geschichte der Festspiele ist fest verbunden mit der allgemeinen deuchen Geschichte“.

In sieben Kapiteln und einem Ausblick wird das „seltsame Pflaster“ Bayreuth wie die Furtwängler-Sekretärin Berta Geismar es 1943 nannte, charakterisiert:

Das erste Kapitel widmet sich „Richard Wagner in Bayreuth“ und meint die Geburt der Festspiele aus dem Geist der Bürgerlichkeit. Das zweite Kapitel steht unter dem Motto der „hohen Frau“ und Wagnerwitwe Cosima und thematisiert die wilhelminische Wagneridolisierung und -Verfälschung, mit der Annäherung an Rassismus und Antisemitismus (vor allem seitens der von Cosima berufenen Autoren des „Bayreuther Kreises“). Im dritten Kapitel geht es um Wagners Religion (eine Art verkappter Religion), um das „Bühnenweihfestspiel“ Parsifal und das völkische Denken, um den Brunnenvergifter H. St. Chamberlain (der die Wagnertochter Eva heiratete) und die von Cosima geförderte Bayreuther Theologie. Nicht zu verwechseln mit Wagners Idee der Kunstreligion. Das vierte Kapitel ist ganz „Hitlers Hoftheater“ gewidmet, dem dunkelsten Kapitel der Bayreuther Festspielgeschichte, das fünfte der Nachkriegszeit, „Demokratie und Regietheater“ überschrieben. Darin wird ein politisches Psychogramm der Wagnerfamilie versucht (als eine Art pseudofeudale Dynastie, eine „Atridenclan“, wie Nike einmal meinte, eine neiderfüllte Familienbande wird sie charakterisiert). Auch der Einzug (linker) Regisseure, vor allem Patrice Chéreaus, der den „Jahrhundertring“ inszenierte, ist Thema, es geht aber auch um den modernen Bayreuther (Krämer-) Geist und den „fränkischen Prinzipal“ Wolfgang Wagner. Der Theater-Manager und väterliche Impresario war als Leiter der Festspiele ein nicht zu ersetzendes Unikat, trotz seiner fränkischen Knorzigkeit. Mehr als fünf Jahrzehnte leitete er das Bayreuther Unternehmen.

Im letzten Kapitel ist „Deutschland einig Wagnerland“ das Thema. Wagnerianer und Festspielbesucher stehen im Mittelpunkt, aber auch die Wolfgang-Nachfolgerinnen Eva Wagner-Pasquier (Wolfgangs verstoßene Tochter aus erster Ehe) und Katharina Wagner (die gemeinsame Tochter mit seiner zweiten Ehefrau Gudrun). Die von den Festspielleiterinnen neuerfundene Festkultur und „moderne Musealisierung“ ist Thema: Bayreuth als Spiegel des europäischen Regie- und Zeitgeisttheaters.

Im abschließenden Ausblick wird „Opportunismus als Überlebensversicherung“ der Bayreuther Repräsentanten, ihre Anbiederung an die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse als Erfolgsprinzip der Festspiele genannt. Daraus erben sich Fragen um die Zukunft der Festspiele. Oswald Georg Bauer wird zitiert mit seinem optimistischen Wort vom „humanen Gegenentwurf zu Krieg, Terrorismus, Gewalt und Zerstörung“. Das sei ein „Gegenmodell der Liebe, der Humanität in einer inhumanen Zeit“ und es sei „Wagners Aktualität heute.“ Wohlgemeinte Worte, die das Buch beschließen. Man darf darüber streiten, ob sie nicht vielleicht zu blauäugig sind.

Man vergesse nicht, was der Schriftsteller und Journalist Maurice Barrès schon 1886, drei Jahre nach Wagners Tod, feststellte: „Gerade in Bayreuth ist man, sagen wir es deutlich, am weitesten von Wagner entfernt.“ Und Wagner selbst bekannte 1881 im Berliner Viktoriatheater (nachdem er dort den „Ring“ in der Produktion Angelo Neumanns sah und begeistert von der Aufführung war), dass „Bayreuth“ vielleicht doch ein „großer Irrtum“ gewesen sei. An anderer Stelle sprach er gegenüber Cosima von einem „großen Frevel“.

Dennoch ist das Buch Bernd Buchners eine respektheischende, mit großem wissenschaftlichem Apparat aufwartende, für reichlich Diskussionsstoff sorgende Arbeit über die Richard Wagner-Festspiele in Bayreuth „an der Schnittstelle von Zeitgeschichte, politischer Mentalitätsgeschichte sowie kulturwissenschaftlicher Disziplinen“.

Dieter David Scholz, 4. Dezember 2025


Bernd Buchner: Wagners Welttheater
Zur Geschichte der Bayreuther Festspiele zwischen Kunst, Politik und Religion.
(Wagner in der Diskussion, Bd. 25).

Königshausen & Neumann 2025, 394 Seiten

ISBN: 978-3-8260-7910-8