Buchkritik: „Gluck, der Reformer?“

„Die Komponisten von Reformopern waren keine Missionare der Opernreform“. Man liest Silke Leopolds Satz und begreift, wieso es schwer, wenn nicht gar fast unmöglich ist, in Zusammenhang mit Christoph Willibald Gluck, seinem Librettisten Calzabigi und dem Wiener Theaterrdirektor Durazzo von der Opernreform zu sprechen.

Schon längst ist bekannt, dass nur ein wenn auch wesentlicher Bruchteil des Gluckschen Opernschaffens jener Bewegung zugeordnet werden kann, die zumal die deutsche Musikwissenschaft – im Rücken: Wagners Lobpreis des „Vorgängers“ Gluck – als Reform der Gattung bezeichnete, als hätte Gluck nach dem Orfeo nichts Anderes geschrieben als „Reformopern“. In einem neuen Band, der schon sechs Jahre nach einer in Zusammenhang mit den Nürnberger Gluckfestspielen stattgefundenen Tagung herauskam, wurden die sieben theoretischen Beiträge des Symposions vereinigt, wobei im Prinzip allein fünf Beiträge dem Tagungsthema gewidmet waren. Worum ging’s? „Die Rolle Glucks als Opernreformator zu hinterfragen und eine Standortbestimmung der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu den Opernreformbestrebungen des mittleren 18. Jahrhunderts vorzunehmen“ und „herauszuarbeiten, auf welche Weise Gluck die künstlerische Prägung erfuhr, die ihn für die Gedanken des Wiener Reformkreises empfänglich machten“. Tatsächlich konnten wenigstens einige wenige Aspekte dieses gewaltigen Themenkreises diskutiert werden – beginnend mit einer wünschenswert detaillierten und spannenden Spurensuche. Bruce Alan Brown gelang es, den douanier und Direttore delle Dogane, also den Finanzdirektor in der Toskana, Daniel de Villeneuve, als Verfasser eines typischen Reformtraktats, des Lettre sur le méchanisme de l’opera italien von 1756, zu identifizieren. Im Plädoyer für eine italienisch-französische Mischform zugunsten einer neuen Oper sehen wir jene Ziele in der Theorie eines Aufklärungs-„Philosophen“, der, rein theoretisch, das Übernationale der Opernkultur propagierte. Damit ging der Autor konform mit jenen Überlegungen, die der von Laurine Quetin erläuterte Monsieur de Chabanon publizierte, denen wir das Wort von „deutschen Teufel“ namens Gluck verdanken, der die Pariser Opernszene gleichsam aufgemischt hat. Durch die Identifikation Villeneuves werden wir auf ein weiteres Werk gestoßen, in dem gleichartige Thesen zur modernen Oper und zur Rettung der französischen Kunst vor den italienischen Missständen formuliert werden: im Voyageur philosophe (1761). Man sieht: Es hat sich gelohnt, tief in die Archive, auch des florentinischen Archivo di stato, hineingestiegen zu sein, um über den fiskalischen Keller in die Bel Etage der Querelles des Bouffons zu geraten.

Der Theorie stand immer die Praxis gegenüber, oder anders: es war die Praxis, die die Theorie gleichsam vor sich her jagte. Daniel Brandenburg nimmt seine Forschungen zum jungen Gluck der Wandertruppen auf, um die große Bedeutung seiner italienischen Erfahrungen zu betonen; der Mann war hier nicht allein der Komponist der aufgeführten Werke, sondern gleichsam ein Mann für Alles, damit bereits jene Persönlichkeit, die später mit ihren Mitarbeitern den Zusammenhang von Text, Musik und Szene als verantwortlicher Autor beschwor. Es waren, so Brandenburg, v.a. die Buffonisten, die einen wesentlichen Anteil an den szenisch-dramaturgischen Ausprägungen hatten, die wir als „Reformwerke“ zu bezeichnen pflegen – interessanterweise begegnen die Kontakte zwischen den Komödianten und den Vertretern eines „noblen“ Stils gleichzeitig in den Balletten, die sich mit ähnlichen Transformationen zwischen einem älteren, angeblich „schlechten“ und einem neuen, „besseren“ choreographischen Stil beschäftigen. Marie-Thérèse Mourey bietet in ihrem Beitrag einen konzentrierten Aufriss über die gesamteuropäischen Tanzreformen, oder besser: Tanzentwicklungen des 18. Jahrhunderts, deren ästhetische Argumente denen der Oper so auffallend ähneln, und deren Praxisbezug (die Abhängigkeit von Publikumsgeschmack und -reaktion, die Interessen der Künstler, der Widerspruch und die Synthese zwischen Musik/Handlung/action und Sujet) vergleichbar ist. Auch unter den Tänzern und Choreographen gab es Querelles, wofür die bekannten Namen Noverre, Hilverding und Marie Sallé einstehen mögen.

Zwei Beiträge des Bandes fallen ein wenig aus dem Reform-Thema heraus: Daniela Philippis Aufsatz über die Klavierauszüge der Gluck-Zeit, besonders über drei frühe, durchaus unterschiedliche Auszüge zur taurischen Iphigenie, schließlich Frieder Reininghaus‘ kurze Übersicht über herausragende Gluck-Inszenierungen von 1987 bis 2016 unter besonderer Berücksichtigung des Wiener 2014er-Orfeo von Romeo Castelluci. Zwei Aussagen des Kollegen fallen auf: „Der Alte Meister war wohl zu sehr den Denkformen und Kulturcodes des Ancienne Régime verhaftet, als dass von seinen Werken im 21. Jahrhundert ohne weiteres ‚revolutionärer‘ Impuls ausgehen könnte – und würden die Stücke auch in noch so elaborierter Weise frisch aufgesattelt. Tunlichst sollte die Meute dr Medienleute aufhören, von den Tonkünstlern zu verlangen, ‚revolutionär‘ zu sein.“ Gluck bleibt gleichwohl ein großer Musikdramatiker; da hatte Wagner schon Recht. Wie Reininghaus am Ende in Zusammenhang mit Johan Simons‘ Alceste-Inszenierung in der Jahrhunderthalle Bochum so schönschreibt: „Das allzu große Zutrauen zum auratischen Raum, der ‚es schon richten werde‘, mag als Ausflucht genommen werden, was angesichts der vorwaltenden Ratlosigkeit mit Glucks Opern heute noch oder morgen wieder ‚anzufangen‘ sei. Dabei ist die Musik lebendiger, als die Verächter Glucks argwöhnen: auf der ‚Backlist‘ ein Dauerbrenner.“ Der Rest ist spannungsvolle Theorie und „Reform“-Geschichte.

Frank Piontek 15. Mai 2023


Gluck, der Reformer?

Gluck-Studien, Bd. 8

Hrg. von Daniel Brandenburg.

Bärenreiter Verlag 2020.

105 Seiten, 22 Abbildungen. 42,95 Euro.