Klavierabend 10.11.2019
Ich spiele alles, was ich liebe.
„Nicht auftreten, nur kommen“ (Fritz Kortner) – sagte sich Grigory Sokolov auf seinem Weg zum Steinway, der weit geöffnet war. Er setzte sich, begann zu spielen, und der Zuhörer wurde magisch in seinen Bann gezogen. Der Konzertsaal war dunkel, das Licht fiel nur auf die Bühne und den Pianisten. Es gab nur ihn, seinen Flügel und die Musik.
Grigory Sokolov wurde 1950 in Leningrad (St. Petersburg) geboren, begann früh mit dem Klavierspiel und gewann 1966 den 3. Moskauer Tschaikowski-Wettbewerb unter Vorsitz von Emil Gilels, der diese große Begabung erkannte und auch später weiter förderte. Seine Karriere war auf die damalige Sowjetunion begrenzt, dann endlich auch auf das Ausland geöffnet. Sokolov konzertiert ausschließlich auf Steinway-Flügeln, deren Technik und Stimmung seinem Empfinden entsprechen. Er gibt keine Orchesterkonzerte, die Probenzeiten sind ihm zu kurz. So kommt das Publikum zu Klavierabenden, die ein schmückendes Adjektiv in sich verbieten.
Es begann mit Wolfgang Amadeus Mozart (1756 – 1791). „Mozart direkt können Sie nicht hören, niemals. Sie hören, wie diese Musik interpretiert wird. Sie hören nur, was Sie davon verstehen können.“ Der Zuhörer hatte Mozart SO noch nie gehört: Präludium (Fantasie) und Fuge C-Dur KV 394 (383a); Sonate Nr. 11 A-Dur KV 331 (300i); Rondo a-Moll KV 511 – ohne Unterbrechung. Der Anfang langsam und leise, dann crescendo zum fortissimo, wieder diminuendo, eine Dynamik und Klangfarbe, die überirdisch waren, einfach „mozärtlich“.
Präludium und Fuge waren 1782 komponiert, wie im „Wohltemperierten Klavier“ bei Bach. Die Tonarten wechseln, eine Hand markiert starre Achteloktaven, die andere lässt Skalen von Sechzehntel-Triolen abwärts fließen, löst sich dann völlig in Arpeggien auf. Sokolov sitzt aufrecht und ruhig, die Finger hüpfen über die Tasten, das Stück ist weder pianistisch bequem noch einfach gesetzt. Die Übergriffe der Hände sind sensationell – der junge Mozart muss von Armen mit „Überlänge“ ausgegangen sein!
Dann die Sonate, ein heiteres Spielstück, Spiegelbild seiner Zeit, atmet den Mannheimer Geist, die Atmosphäre von künstlerischer Kultur, Leichtsinn und Lebensgenuss. Übrigens sind in der Partitur keine dynamischen Kontraste vorgegeben, die Musik läuft also einfach durch. „Musik ist immer subjektiv“ – so Grigory Sokolov und gestaltet die Sonate in feinsten Differenzierungen der Klangfarbe durch Anschlag und Pedalisierung bis zum 3. Satz, dem Allegretto „Alla Turca“. Man möchte mitsingen, aber das Thema kommt mit leisen Schritten, es ist kein einfaches Divertissement. „Die Kunst ist ein Paralleluniversum zur Wirklichkeit. Kunst ist etwas Freies, das drinnen ist.“ So darf man ohne „political correctness“ an die Türkenkriege der Zeit denken, die dramatischen Kontraste verweisen auf den Prinzen Eugen. Alles ist einfach eine Lust, mit Trillern verziert, die von der linken Hand übernommen werden. Sie erfordern vom Pianisten eine beträchtliche Finesse und Einfühlsamkeit: „Man wohnt in seiner eigenen Welt und seiner eigenen Zeit.“
Das Rondo schließt den musikalischen Mozart-Kreis. Ein schwermütiger Zauber zwischen Moll und Dur, ein Schillern zwischen Hell und Dunkel umfängt das Stück. Die Themen greifen ohne Überleitung ineinander, einzelne Töne werden so ausgekostet, dass die Obertöne im Ohr bleiben. „Der Harmoniker Mozart greift hier weit in die Romantik voraus.“
Sie wird uns nach der Pause mit Johannes Brahms (1833 – 1897) geboten. „Es ist unmöglich, über Musik zu sprechen.“ Ludwig Wittgenstein (1889 – 1951): „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“. Die Musik muss sich nicht mit Begriffen und ihren Worten herumschlagen, sie hat ihre Noten: Und die kann man spielen!
Johannes Brahms Sechs Klavierstücke op. 118 und vier Klavierstücke op. 119. Komponiert und wohl eher zusammengefasst wurden diese 1893. Brahms empfand sein Ende nahen und begann, seine persönlichen Angelegenheiten und die liegengebliebenen kompositorischen Arbeiten systematisch zu ordnen und zu einem Abschluss zu bringen. Wann die Kompositionen tatsächlich entstanden sind, ist bei den meisten ungewiss. Einiges ist sicher Clara Schumann gewidmet, was für die Baden-Badener einen besonderen Bezug hat. Seine letzten Sommer verbrachte Brahms in Bad Ischl, leicht und luftig sind seine Klavierstücke aus der Zeit. Sokolov zur Biographie eines Werkes: „Man sollte diesen Aspekt nicht überschätzen. Die äußere Welt ist interessant, aber auf die innere Welt kommt es an. Eine Widmung ist noch kein Programm.“
Der Pianist „kommt“ nach der Pause, und im Dunkel meint man, es sei Johannes Brahms „himself“! Der Beginn, Anschläge eines „Tastenlöwen“. Das Gefühl sagt, jetzt wird „nachgeschöpft“. Man wird mit- und hin- und hergerissen von der Wucht der Musik. Die Hände fliegen wieder, dieses Mal die rechte Hand nach links. Die Dynamik des Spiels zieht in den Bann. Die Frage: „Lieben Sie Brahms“ kann man nur mit „Ja“ beantworten. Aber eben nur diesen speziellen, von Grigory Sokolov dargebrachten. „Ein Künstler sollte das Publikum in seine Welt mitschleppen.“ Diesen persönlichen Anspruch hat er erfüllt. Die einzelnen Klavierstücke beinhalten alle Stimmungen, Gedanken und Gefühle. Sie kommen aus dem weit offenen Flügel hinunter in das Dunkel des Saales und treffen sicher mitten ins Herz des Zuhörers. Und das alles konnte dieser Ausnahme-Pianist, ruhig am Flügel sitzend und seine Finger zaubern lassen. Und man darf ihn sicher als einen der Größten bezeichnen!
Und dann gab es reichen Lohn für das bereits Genossene: sechs Zugaben, eigentlich ein ganzes Konzertprogramm. Der Beginn mit Franz Schubert „Impromptu op. 142, No. 2“ – als wäre die musikalische Seligkeit noch nicht erreicht. Dann Rameau „Les Sauvages“, Brahms „Intermezzo op.117 No.2“, dann wieder Rameau mit „Le Rappel des oiseaux“. Ein russischer Abschluss, nach dem man auch lechzte: Rachmaninoff „Prélude op. 32 No.12“ und Scriabin, „Prélude op. 11 No.4“.
So durfte man erfüllt gehen und wusste, Grigory Sokolov hat recht: „Interessant ist die Verbindung zur Kunst. Und zum Leben. Sie bekommen diese Energie und verwandeln sich oder nicht.“
Fazit: er hat seine Zuhörer verwandelt!
(c) DG / Selpkova
Inga Dönges, 11.11.2019