Baden-Baden: „Orphée et Eurydice“

Eine Ballettoper von John Neumeier

Eröffnung am 27.09 2019

Dmitry Korchak ist Orphée – diesem Tenor gebührt die Palme in Form eines OPERNFREUND-Sterns

Christoph Willibald Gluck (1714 – 1787) gilt in der Musikwelt als der Reformer der italienischen Oper. „Ich bemühe mich, mit einer edlen, gefühlvollen und natürlichen Melodie, mit einer genauen, dem Tonfall jeder Sprache und dem Charakter jeden Volkes angepassten Deklamation eine Musik zu schaffen, die allen Nationen eigen sein kann und die lächerliche Unterscheidung von nationalen Musikarten zum Verschwinden bringen muss.“
Seine große Leistung ist, die europäischen Formen der ernsten Oper des 18 Jahrhunderts, die „Opera seria“ und die „Tragédié lyrique“ zusammenzufassen. Also eine Reform als Synthese, wie es Ulrich Schreiber nennt. Ballett-Oper nennt John Neumeier seine Sicht und Interpretation, sein „Gesamtkunstwerk“. Aber wie hält er es mit der grundlegenden Frage, die Oper von altersher bis heute bewegt: „prima la musica e poi le parole – ossia il balletto? Natürlich ist das gesamte Kunstwerk mehr als die Summe seiner Teile.
Er wählt die französische Fassung von 1774, die die Wiener Fassung von 1762 im Wesentlichen enthält. Zugefügt sind lange Ballettszenen. Die mythologische Handlung ist bekannt. Orphée trauert um Eurydice, die nach einem Schlangenbiss starb. Seine Einsamkeit und innere Leere treiben ihn an den Rand des Wahnsinns bis hin zum Wunsch des Selbstmordes. Da erscheint L‘Amour, der Gott reiner Liebe, und verspricht ihm, er könne Eurydice aus dem Hades zurückholen – unter einer Bedingung: Er darf sie nicht anschauen und ihr den Grund dafür nicht sagen.

Das ist John Neumeier nicht genug und er findet eine Rahmenhandlung, um so den Mythos in die Gegenwart zu transportieren. Der Mythos aber ist zeitlos gültig! Es reicht nicht, die „dramatis personae“ in heutige Straßenbekleidung zu stecken – und schon sind sie in der Gegenwart.

Während der heiteren Ouvertüre angesichts des Todes (Toscanini strich diese bei seinem Dirigat) spielt die moderne Geschichte im Ballettsaal. Der Choreograf Orphée, assistiert von L’Amour, probt ein Ballett vor Arnold Böcklins Gemälde „Die Toteninsel“. Die Primaballerina Eurydice verspätet sich, zankt mit dem Choreographen, ohrfeigt ihn schließlich und stürmt von der Bühne. Dann ein großer Knall: sie rast mit ihrem Kleinwagen gegen einen Baum und wird dabei getötet. Das Handy von Orphée übermittelt die Todesnachricht, und er macht sich auf den Weg zur Toteninsel.
Düster das Licht, verspiegelte Wände mit Dreiecksgrundflächen, die von Hand verschoben werden und dazwischen das Corps de ballet, der Tanz der Grazien, der Furien, des Cerberus. der Schatten, der seligen Geister und das tanzende Double von Orphée et Eurydice Anna Laudere und Edvin Revazov. Gehüllt in fließende Gewänder wogen alle über die Bühne – aber der Gesang behält die Oberhand und leuchtet über die ebenmäßige Inszenierung mit ihren schönen Lichteffekten. Eigentlich stellt man sich den Hades chaotischer vor, zumal das Boot umgekippt über dem Bühnenraum schwebt. Es gibt also kein Zurück.
Es gab 1975 schon eine Tanz-Oper „Orpheus und Eurydike“, ein Todesreigen von Pina Bausch in Wuppertal mit ihrem Hausensemble. Sie verzichtete auf die Ouvertüre und stellte die Arie „Ach, ich habe sie verloren“ an den Anfang dieser Totenmesse. 1992 wurde dieses Werk aus dem Wuppertaler Archiv von Gerard Mortier in das Pariser Palais Garnier geholt und ist im Repertoire der Pariser Oper.

Die große Dramatik, wie die einer Todesfuge, liegt hier bei John Neumeiers Deutung in der Darstellung und Sangeskunst von Dmitry Korchak. Solch einen Tenor hat man als Orphée noch nicht gehört. Er verkörpert mit Stimme und Herz Orphée und singt so die eigentliche Reform der Oper.

In Wien gab die Titelpartie 1762 noch ein Kastrat, in Paris ein Tenor mehr männlicher Ausprägung. Dmitry Korchak verfügt über eine umfangreiche Tessitura. Diese Partie liegt sehr hoch, und er singt hell, die Vokale leuchten, die Koloraturen sind im Legato gebunden. Der Kopfstimme gelingt das Piano zur echten Schwellfähigkeit, die den männlichen Klang auch in der sicheren und metallischen Höhe erreicht. Die Farben wechseln, und man hört einen lirico-spinto Tenor. Schon ist es Gluck „at it’s best“! Also eine echte Tenor Premiere des Orphée! Das konnte es 1774 noch nicht geben.
Seine Kraft reichte spielend für die ganze Oper, war er doch auf der Bühne stets präsent. Er wird dem authentischen Gluck-Ausspruch an seinen Tenor gerecht, die dreimaligen Eurydice-Rufe im ersten Chor nicht nur zu singen: „sondern schreien Sie ganz einfach so schmerzvoll, als ob man Ihnen ein Bein absäge, und wenn sie das können, dann gestalten sie diesen Schmerz innerlich, moralisch und von Herzen kommend!“. Korchak musste nicht „sparen“, um die Kraft für die letzte, so berührender Arie „Ach, ich habe sie verloren“ zu halten.
Er wurde 1979 in Moskau geboren, studierte dort Gesang und Dirigieren, gewannen bald erfolgreich Wettbewerbe und sang an internationalen Opernhäusern. Seit 2017/18 ist er erster Gastdirigent an der Oper und dem Ballett-Theater von Nowosibirsk und hat dort sein eigenes Festival. Für Baden-Baden eine große Entdeckung.

Eurydice gab Arianna Vendittelli anrührend mit lyrischem Sopran. L’Amour war Marie-Sophie Pollak mit frischem, leuchtenden Sopran, ihrer Hosenrolle entsprechend. Sie spendet Orphée den Trost, nachdem er Eurydice zum zweiten Mal verloren hat. Es gibt kein „Happy end“, Orphée bleibt die Liebe in seiner Kunst, in seiner Choreographie erhalten. So entgeht die Oper dem Dilemma des „lieto fine“, das Gluck noch dem Geschmack seiner Zeit zugestehen musste.

Der Chor war das Vocalensemble Rastatt, das seine Aufgabe im Graben souverän löste. Das Freiburger Barockorchester begleitete, schob sich nicht übertönend in den Vordergrund, vor allem die Flöte blies ergreifend schöne Soli in bester Legato-Manier. Dirigent war Alessandro De Marchi, der etwas unentschlossen in den eigentlich unterschiedlichen Tempi blieb. So fehlten Elan und Kontraste, was auch die Eindrücke des Corps de ballet betraf. Mehr Dramatik gab es in der Partitur, war aber kaum zu hören. Das Publikum dankte mit stehenden Ovationen, war es doch eine eingefleischte Neumeier-Gemeinde
Ein Dank an John Neumeier, der vor 20 Jahren mit dem Intendanten Andreas Mölich-Zebhauser das Festspielhaus vor dem Untergang gerettet hatte, seine Treue hielt bis zum heutigen Beginn der neuen Intendanz von Benedikt Stampa, der die Meriten dieser Vergangenheit bewahren und neue Glanzlichter hinzufügen möge.

Inga Dönges 29.9.2019

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