Gelsenkirchen: Tops und Flops – „Bilanz der Saison 2023/24“

Auch in diesem Jahr haben wir unsere Kritiker wieder gebeten, eine persönliche Bilanz zur zurückliegenden Saison zu ziehen. Wieder gilt: Ein „Opernhaus des Jahres“ können wir nicht küren. Unsere Kritiker kommen zwar viel herum. Aber den Anspruch, einen repräsentativen Überblick über die Musiktheater im deutschsprachigen Raum zu haben, wird keine Einzelperson erheben können. Die meisten unserer Kritiker haben regionale Schwerpunkte, innerhalb derer sie sich oft sämtliche Produktionen eines Opernhauses ansehen. Daher sind sie in der Lage, eine seriöse, aber natürlich höchst subjektive Saisonbilanz für eine Region oder ein bestimmtes Haus zu ziehen.

Nach der Staatsoper unter den Linden blicken wir heute auf das Musiktheater im Revier Gelsenkirchen.


Beste Produktion:
Jerry Hermanns Hello Dolly als opulentes Musical in der Regie von Carsten Kirchmeier und im tollen Bühnenbild von Jürgen Kirner.

Ambitioniert gescheitert:
Die Eine Nacht in Venedig-Inszenierung von Intendant Michael Schulz wird durch überlange Dialoge breitgetreten und mündet im 3. Akt in einer musikalischen Collage von Vivaldi und Verdi bis zu „Granada“, die nichts mehr mit Johann Strauss zu tun hat. 

Opern-Entdeckung des Jahres:
Tschaikowskys mystisch-süffige Iolantha. Das kann man viel öfters spielen. – Nächste Saison folgt tatsächlich schon die nächste Inszenierung in Hagen.

Musical-Entdeckung des Jahres:
Im Musiktheater im Revier ist nicht nur die Oper, sondern auch das Musical zu Hause. Neben der großformatigen Hello Dolly gibt es mir Tick, Tick …. Boom! von Jonathan Larson und The Story of my Life von Neil Bartram auch zwei starke Kammermusicals.

Beste Gesangsleistung:
In Gelsenkirchen ist das vielseitige Ensemble der Star:

  • Margot Genet gibt mit viel Spielwitz und funkelndem Sopran die Annina in Nacht in Venedig und die Despina in Cosi fan tutte und geht zwischendurch noch mit Rene Jacobs als Frasquita auf eine konzertante Carmen-Europa-Tournee.
  • Lina Hoffman singt nach einem Ausflug in die Hosenrolle des Salome-Pagen, selbst-bewusst-emanzipierten Frauenrollen wie die Barbara in Nacht in Venedig und die Dorabella in Cosi fan tutte.
  • Martin Homrich trumpft heldentenoral als Herodes in Salome, Koch Pappacoda in Eine Nacht in Venedig und Florestan in Fidelio schweigt auf.
  • Simon Stricker punktet mit seinem eleganten und großformatigen Bariton als Salome-Jude, Robert von Burgund in Iolanta und Guglielmo in Cosi fan tutte.

Ungewöhnliche Uraufführung:
Als Nachtrag zum Beethoven-Jahr 2020 kommt die durch Corona verschobene Oper Fidelio schweigt heraus. Librettist und Regisseur Hermann Schneider konzentriert sich auf die politische Befreiungsgeschichte. Komponistin Charlotte Seither schreibt geräuschhafte Orchester-Zwischenspiele, die Beethovens Nummern verbinden oder unterbrechen. Ein spannender Abend, der die Fidelio-Probleme aber auch nicht löst.


Die Bilanz zog Rudolf Hermes.