Das dritte Symphoniekonzert der Staatskapelle in der Saison 2019/20
21. Oktober 2019 in der Semperoper Dresden
In unserem Konzertführer der 1950er Jahre gesteht der Herausgeber Karl Schönewolf Bela Bartok (1881-1945) lediglich ein Violinkonzert aus den Jahren 1937-1938 zu. Er erwähnt aber, dass Bartok bereits um 1907 ein zweisätziges Werk für Violine und Orchester entworfen habe. Tatsächlich komponierte der Sechundzwanzigjährige, unsterblich verliebt in die ungarische Geigerin Stefi Geyer (1888-1956), für diese junge Frau zwei Sätze für Orchester und Violine Solo und legte ihr die sehr persönlichen Kompositionen buchstäblich zu Füssen. Ein Zerwürfnis in Glaubensfragen beendete die Beziehung, so dass ein dritter Satz nicht zu Stande kam. Stefi Geyer hat die Komposition nie gespielt, aber offenbar die Partitur unter Verschluss gehalten. Bartok rächte sich musikalisch: Im letzten Zyklus seiner 14 Bagatellen nahm er sich „ihr“ Violinkonzert vor, karikierte das Leitmotiv und versah weitere Nutzungen des Materials mit Titeln wie „Zerrbild“. Nach Stefis Tod entdeckte man das Notenmaterial in ihrem Nachlass und konnte es nach der Neu-Einteilung 1958 als 1. Violinkonzert uraufführen.
Das 2. Violinkonzert Bartoks trägt diese Bezeichnung erst seit den späten 1950er Jahren. Es galt bis dahin einfach nur als Bartoks Violinkonzert.
Der Geiger und Freund Bartoks Zoltán Székely bat diesen 1937, ihm ein „ganz klassisches Konzert“ zu schreiben. Bartok plante aber, ein größeres Variationswerk zu komponieren. Man fand einen Kompromiss, der letztlich zu einem komplett neuen Konzept führte und Beide zunächst befriedigte. Der zweite Satz (Andante tranquillo) wurde ein Variationssatz und der Final-Satz eine Variation des durch schroffe Gegensätze geprägten Kopfsatzes. Vom dritten Satz existieren trotzdem zwei Versionen, weil sich Szekely über die geringe Präsenz der Solovioline im Finale beklagte. Mithin hat Bartok für den dritten Satz eine Alternativfassung zur Verfügung gestellt.
Für das dritte Symphoniekonzert der Saison hatte Omer Meir Wellber für den erkrankten Alan Gilbert das Dirigat übernommen. Als Solist des B-Dur-Bartok-Konzertes war der seit 2004 regelmäßig in Dresden gastierende und uns von seinen Sibelius-Aktivitäten bestens bekannte Grieche Leonidas Kavakos mit seiner wunderbaren „Willemotte-Stradivari“ in den Semperbau gekommen. Geschaffen worden war das außergewöhnliche Instrument 1734, als Antonio Stradivaris Söhne die legendäre Werkstatt in Cremona bereits führten und er sich ob seiner 90 Lebensjahre Zeit zum Experimentieren nahm. Er vergrößerte die Wölbung des Instruments, um mehr Raum im Korpus für Klangproduktion, Farbe und Klangtiefe zu schaffen. Der Klang des Instruments mit seiner Intensität und der darunterliegenden Dunkelheit kombiniert das Beste der Instrumente Stradivaris mit denen der Guarinis. Namensgeber der Geige ist der Amsterdamer Violinist Charles Willemotte, auch Wilmotte (1817-1883). Leonidas Kavakos konnte 2017 nach mehreren Anläufen das außergewöhnliche Instrument käuflich erwerben. Vor ihm hatten das Instrument unter anderem der Violinist und Komponist Jean Baptiste Cartier (1765-1841) sowie die deutsche Geigerin Maria Lidka (1914-2013), letztere bis ins hohe Alter, gespielt.
Bartok hat bekanntlich den Interpreten seines Violinkonzertes durch ein engmaschiges Netz von Tempoangaben Begrenzungen auferlegt und sie damit zur Offenbarung ihrer Virtuosität gezwungen. Die Sensibilität für komplexe Klang- und Gefühlsschattierungen des Leonidas Kavakos kam damit auf das wunderbarste zur Geltung. Die schnellen und virtuosen Passagen des ersten Satzes schaffte er fast schwerelos. Auch die Parallelität des griffigen Hauptthemas mit einer Zwölftonmelodie meisterten Solist und Dirigent sensibel, klangschön und mit Spannung. Im Schlussteil des Kopfsatzes brachte Leonidas Kavakos mit einer bezaubernden Kadenz noch einmal Klang und Volumen-Potenzial der wunderbaren „Willemotte“ auf das prachtvollste zur Geltung.
Dem durch Tempo und Schroffheit geprägtem Kopfsatz folgte ein langsamer Variations-Satz. Kavakos gab dem Orchester eine ruhige wunderschöne Kantilene vor, die in der Folge vom Orchester und der Sologeige mehrfach variiert, die Hörer in die verschiedensten Klangwelten führte. Wie der Held im Märchen erhielt der Solist immer neue Aufgaben vom Orchester und muss Abenteuer überstehen, marschierte aber unentwegt zum Satzende, der Wiederholung des Themas. Das war schon meisterhaft, wie Wellber und Kavakos diesen schwierigen Satz zur Geltung und damit zu einem Höhepunkt des Abends brachten.
Mit dem Finalsatz, gespielt wurde die überarbeite „Virtuosen-Fassung“, kehrten dann Kavakos und Wellber zur Expressivität des ersten Satzes, aber auch zu dessen Themen zurück. Aber alles, was im Kopfsatz großartig und stolz klang, erhielt hier fratzenhafte, wilde und tänzerische Züge. Das Violinspiel Kavakakos blieb eng mit der Orchesterführung Wellbers verwoben, so dass eine faszinierende Wirkung wie „aus einem Guss“ entstanden war.
Mit einer Zugabe, offenbar eine Bartok-Komposition glänzten Solist und Violine mit ihren außergewöhnlichen Fähigkeiten.
Sergei Prokofjew, 1891 in der Ukraine geboren, hatte nach der Petrograder Aufführung seiner „Klassischen Symphonie“ 1918 die Instabilitäten seiner Heimat hinter sich gelassen und bis 1932 ein unstetes Wanderleben als Pianist und Dirigent in Europa sowie Amerika geführt. Im Herbst 1919 traf er in den USA ehemalige Kommilitonen des Petersburger Konservatorium, die mit einem jüdischen Ensemble tingelten. Diese gaben ihm ein Heft mit hebräischen Themen und baten um die Komposition einer Ouvertüre für ein Sextett. Beim Blättern im Heft und beim Improvisieren am Klavier fügte sich für Prokofjew die Komposition wie von selbst zusammen. Inzwischen existiert diese „Ouvertüre über hebräische Themen op. 34“ in unterschiedlichen Fassungen: für kammermusikalisches Sextett und eben auch für Orchester. Wellber hatte dankenswerterweise für das Konzert eine frühe kammermusikalische Fassung für Klavier, Klarinette und Streicher-Gruppe ausgewählt. Der Israeli Omer Meir Wellber ist mit der Bandbreite an Stilrichtungen innerhalb der Klezmer-Musik bestens vertraut und so ist es nicht verwunderlich, dass seine Prokofjew-Interpretation verwandte Züge bietet. Die Vorgabe des Komponisten „Un poco allegro“ schiebt er zur Seite, gibt das Tempo vom Klavier an und lässt die Musiker frisch und temporeich aufspielen. Das Sextett vervollständigten der 1. Konzertmeister Roland Straumer, der Konzertmeister der 2. Violinen Professor Reinhard Krauß, der Solo-Bratscher Florian Richter, der Solo-Cellist Friedrich Christian Dittmann und der Solo-Klarinettist Wolfgang Große.
Nach öffentlichen Ankündigungen war 1939 als Schostakowitschs 6. Symphonie ein gewaltiges Chor-Werk zu Ehren Lenins erwartet worden. Aber Schostakowitsch legte eine Weiterführung der Gedanken zum Werden der Persönlichkeit und des menschlichen Bewusstseins aus der fünften Symphonie von 1937 vor. Er schließt mit dem ersten Satz der sechsten an das Schluss-Satz-Largo seiner fünften Symphonie an. Grüblerisch führte er den Monolog von 1937 weiter, so als habe er im Vorgängerwerk Gedanken nicht zum Ende gebracht. In dieser Monolog-Weiterführung herrscht aber größere Ruhe, Besonnenheit und Schicksalsergebenheit. Deshalb auch die lange (inoffizielle) Satzbezeichnung „Largo-Poco più mosso e poco rubato-Moderato-Sostenuto-Largo“. Omer Meir Wellber führt in diesem Kopfsatz die Musiker der Staatskappelle ruhig und unaufgeregt, fast schulmäßig, den aufgereihten Tempovorgaben Schostakowitschs entlang und ließ dem Hörer die Gedanken des Komponisten nachzuvollziehen. Den Satz beendeten die Streicher mit einem Flirren und Flimmern, so dass sich die Aussage des ersten Satzes im Ungefähren verlor.
Dafür verwöhnt der Komponist im Allegro mit einer Fülle von Ideen, Klangfarben und Rhythmen zu einem zauberhaften Scherzo, das Wellber mit dem Orchester engagiert und mit sichtbarer Freude zu einem regelrechten Jahrmarktstreiben umsetzte. Im dritten Satz (Presto) mit seiner schlichten melodischen Klangsprache verschärfte Wellber das Tempo des Orchesters wie einen Galopp, ohne dass die Fröhlichkeit sowie Lebensfreude ins Groteske kippt und beendete mit einem glanzvollen Finale.
Mit frenetischem, zum Teil stehendem, Beifall löste das Publikum seine vom Bartok und Largo aufgebaute Spannung und dankte dem inzwischen recht beliebten Omer Meir Wellber und dem Orchester.
Für mich ergibt sich nach dieser Aufführung die Frage, ob unser derzeitiges, vor allem von Julian Barnes geprägte Schostakowitsch-Bild, nicht zu düster ist. Denn wie kann ein Mensch eine derart fröhliche Musik gestalten, wenn er sich andererseits gefährdet sah.
Thomas Thielemann, 22.10.2019
Bildautoren: Kavakos_credit-Marco-Borggreve / Wellber_ Matthias Creutziger