Brüssel: „Tristan und Isolde“

Musikalische Leidenschaft trifft auf szenische Aseptik

La Monnaie, oder in gut Flandrisch das De Munt, brachte im Mai eine neue „Tristan“-Produktion heraus, die in verschiedenen Besetzungen der Hauptrollen immerhin – das Munt ist ein erstklassiges Stagione-Theater – zehn Mal in Serie gespielt wurde. GMD Alain Altinoglu stand am Pult des Orchestre Symphonique de la Monnaie und lieferte eine außergewöhnlich dynamische, ja im wahrsten Sinne des Wortes leidenschaftliche musikalische Interpretation des opus summum Richard Wagners. Man hatte fast den Eindruck, als wollte er für den Mangel an Emotion und Empathie auf der Bühne musikalisch entschädigen. Denn was man zu sehen bekam, war eine nahezu aseptische, an Bewegungsarmut bzw. deren genauester Dosierung nur so strotzende Inszenierung von Ralf Pfleger, die Heiner Müllers „Tristan“ in Bayreuth und zuletzt in Linz in den Schatten stellte und selbst dem Pantomimen-Papst Robert Wilson sehr nahe kam. In den Bühnenbildern von Alexander Polzin, und der ebenso ungewöhnlichen Lichtregie von John Torres sowie einer phantasievollen Choreographie von Fernando Melo war die visuelle Ästhetik jedoch durchaus interessant und ansprechend, wenn man von der eigentlich in diesem Musikdrama angesagten erotischen Leidenschaft einer mit der sprichwörtlichen „Sitte“ konfrontativen und damit unmöglichen Liebe zu abstrahieren bereit und in der Lage war. Was man aus dem Graben hörte, hatte eben mit dem, was auf der Bühne geschah, recht wenig zu tun.

Es beginnt gleich nach dem leidenschaftlich musizierten Vorspiel mit einer Agglomeration von stalaktitenartigen Gebilden aus Stoff, die von der Bühnendecke hängen wie Eiszapfen in einer Karsthöhle. Es sollte wohl das eisige Verhältnis zwischen Tristan und Isolde zu Beginn der Geschichte symbolisiert werden. Wenn dann der Liebestrank – freilich nur gedanklich – stattgefunden hat, leuchten diese Eiszapfen warm auf. Man hat sachte zu sich gefunden – es hat sich was getan! Die Bühne ist hinten mit einem riesigen Spiegel umstellt, hinter dem man die Köpfe der Chorsänger schemenhaft erkennt, der aber auch all die langsamen, fast pantomimenhaften Bewegungen, die Isolde und Brangäne trotz der doch einigermaßen klar werdenden Aufregung Isoldes um ihre story mit Tristan vollziehen. Dabei kommen besonders die ebenso extravaganten wie geschmackvollen Kostüme von Wojciech Diedrich zur Geltung, die mit dem Hirten im 3. Aufzug in Form eines umgekehrten Trapezes ohne jede Bewegungsmöglichkeit, aber auch in einer blutroten römischen Toga für den siechen Tristan und blattgoldbelegtem Gesicht ihre ultimative Steigerung erfahren.

Der 2. Aufzug wird vor schwarzem Hintergrund von einer riesigen hellgrauen Koralle beherrscht. Nur ganz langsam erkannt man, dass sie voller gleichfarbiger Tänzer und Tänzerinnen steckt, die sich langsam lösen und ein Eigenleben in der Koralle entwickeln. Das st durchaus anmutig anzuschauen, aber was hat es mit Tristan und Isolde zu tun?! Allenfalls könnte man diese geschlechtsneutralen Graumenschen (sie erinnerten mich an die Nuba in Leni Riefenstahls Film) als die „Späher zur Nacht“ von Melot erkennen. Dieser ist ebenfalls weitgehend unbeweglich, es gibt auch keinen Kampf zwischen ihm und Tristan. Eine leichte Regung von Melots Speer reicht und Tristan verzieht sich unten in die Koralle, während Isolde oben meditiert und von dem ganzen Geschehen unten nichts mitbekommen hat. Auch König Marke kommt über einen statistenartigen Gesangsvortrag kaum hinaus. Also, so wenig Bewegung wie nötig und so wenig Mimik wie möglich. Sonderbar, aber es hatte eine Ästhetik, die einen gewissen attraktiven Reiz ausstrahlte, nicht zuletzt auch durch die immer wieder gezielt eingesetzten Schattenspiele.

Den 3. Aufzug erleben wir vor einer Bühnenwand mit vielen Löchern unterschiedlicher Größe, durch die in bestimmter Folge Licht flutet. Auch das ist optisch reizvoll, ebenso wie das stoische Wandern des Hirten in seinem sonderbaren Kostüm über die Bühne. Tristan kann unter diesen Umständen natürlich nicht wirklich sterben. Er legt sich in seiner roten Toga mit goldverziertem Antlitz unter gleich aussehenden Männern erst mal zu Boden, steht aber später wieder auf. Nun ja, das haben auch andere Regisseure schon so gezeigt – die unsterbliche Liebe zwischen Tristan und Isolde. Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, aber es könnte sein, dass Tristan und Isolde sich erst vor dem Schlussvorhang beim Applaus berührt haben…

Der bewährte Christopher Ventris, nach Bryan Register die Zweitbesetzung, bekanntlich kein Heldentenor, passte perfekt in dieses filigrane Konzept und sang den Tristan mit seinem gewohnt schönen Timbre und sichtlich unterdrückter Emotion. Ricarda Merbeth sang als Drittbesetzung nach Ann Petersen und Kelly God in dieser Dernière die Isolde, wenn man von einem „Singen“ überhaupt reden will. Denn was zu hören war, war vor allem das Konzentrieren auf das Stemmen aller hohen Töne, deren Noten zwar stets erreicht wurden, die aber, zumal mit einer unzureichenden Mittellage und einer quasi nicht vorhandenen Tiefe wenig über den Text aussagten, den Wagner dazu geschrieben hatte. Denn es war fast nichts zu verstehen. Von Phrasierung „schon gar keine Spur“. Mir fiel sofort des Meisters berühmte Bitte an seine Sänger ein: „Text, Text und wieder Text… Bleibt mir gewogen, Ihr Lieben“ oder so ähnlich. Darstellerisch kam Merbeth möglicherweise der restriktive Stil der Personenführung entgegen.

Mit einem ebenso klangvollen wie ausdrucksstarken und wortdeutlichen Mezzo glänzte Ève-Maud Hubeaux als Brangäne. Sie konnte trotz aller Bewegungsarmut eine gewisse Emotionalität nicht verbergen, was ihrer Rolleninterpretation gut tat. Franz-Josef Selig sang mit tiefem Bass den König Marke und ließ erkennen, welches Potential er für diese Rolle hat, wenn er sie auch darstellen dürfte. Andrew Foster-Willams debutierte in dieser „Tristan“-Serie mit dem Kurwenal und ließ einen prägnanten Bariton hören. Der von Martino Faggiani geleitete Männerchor des Monnaie beeindruckte durch außerordentliche stimmliche Potenz und sang zunächst hinter dem Spiegel im Bühnenhintergrund und am Schluss von den Proszeniumslogen. Er war wirklich ein echter Pluspunkt.

Wie schon zu Anfang gesagt, lieferte Alain Altinoglu ein leidenschaftliches musikalisches Plädoyer für eine werkgerechte Interpretation von „Tristan und Isolde“. Möglicherweise hätte der Sänger der UA länger leben können, wenn ihm eine so sparsame Darstellung des Tristan wie in Brüssel abverlangt werden wäre. Es ist zu vermuten, dass es zu Wagners Zeiten auf der Bühne ähnlich zugegangen sein muss wie im Orchester – also etwa so, wie Isolde es in ihrem herrlichen Liebestod schildert. Aber das geht wohl heute nicht mehr. Oder handelte es sich bereits um die ersten Folgen der #mee too-Bewegung auf der Wagner-Bühne…?!


Klaus Billand 26.6.2019

Pressefotos von: van Rompay / La Monnaie / De Munt