Premiere: 3.2., besuchte Vorstellung: 16.2.
Man sieht betroffen, den Vorhang zu und zu viele Fragen offen…
Berlioz sperriges opus 24 bezeichnete er selber als eine dramatische Legende in vier Teilen. Stilistisch gesehen ist es eine Mischung aus Nummernoper und Oratorium, die von Berlioz nie als szenische Aufführung gedacht war. Demgemäß fand die Uraufführung in der Pariser Opéra-Comique am 6. Dezember 1846 unter Berlioz‘ Leitung auch nur in konzertanter Form statt und endete, wie auch die Reprise am 12. Dezember, in einem künstlerischen wie finanziellen Desaster. Eine weitere Aufführung in Paris sollte der Komponist zu seinen Lebzeiten nicht mehr erleben. An eine szenische Aufführung in Österreich kann ich mich nur mehr an jene des katalanischen Regieteams La Fura dels Baus bei den Salzburger Festspielen 1999 erinnern. Der 1975 geborene ungarische Regisseur und studierte Pianist David Marton wurde bereits 2009 von der Fachzeitschrift „Deutsche Bühne“ für sein 75 minütiges Musiktheater nach Mozart, „Don Giovanni. Keine Pause“, aufgeführt in der Kulturfabrik Kampnagel, Hamburg-Winterhude, zum Opernregisseur des Jahres gewählt.
Das Landestheater zeigt nun Martons Deutung von „La damnation de Faust“ in einer Koproduktion mit der Opéra de Lyon, wo diese Inszenierung bereits 2015 Premiere hatte. Bei Marton spielt dieser Faust, anders als im Libretto, nicht in Ungarn und Deutschland, sondern im Südwesten der USA in den fünfziger Jahren. Christian Friedländer stellte dafür eine unfertige Autobahnbücke auf die Bühne und einen Pick-up truck an den rechten Bühnenrand. Als dann der berühmte Rákóczy-Marsch ertönt, übt der Kinderchor die feierliche Einweihung dieses Autobahnabschnittes. Die Kostüme von Pola Kardum setzen auf Uniformität der Massen, die in den Bann von Méphistophélès gezogen werden. Dass Faust Arzt ist, wird man sich in dieser Inszenierung erst dann bewusst als er am Ende des ersten Teiles vor seinen Studenten eine Leiche seziert. Und bevor er das Innere des Brustkorbes freilegt, schließt sich der Vorhang vor den gespannten Blicken des Publikums… Im zweiten Teil ist das gesamte Bühnenbild mit weißen Laken zu gehüllt. Der Männerchor ist mit schwarzen Mänteln und Melonen wie Méphistophélès gekleidet, sodass sich das Böse in Gestalt von Méphistophélès nicht mehr aus der Masse hervorhebt. Masse und Macht. Das Böse ist unter uns, steckt in jedem und jeder von uns und ist nur schwer zu erkennen und zu entlarven. Diese optische und auch gesungene Vervielfachung einer Bühnenfigur als Regiekunstgriff hat zuletzt auch Stefano Poda für seine Turandot-Inszenierung am Teatro Regio di Torino im Januar 2018 angewendet, wo er Turandot gleich gekleidet wie der übrige Teil des weiblichen Chores in der Masse unerkannt bleiben lässt.
Regisseur Marton aber übernimmt auch einige Szenen aus Goethes Faust I, deren Text er einmal vom Chor auf Deutsch, nicht immer textverständlich, sprechen lässt und dann bei der Gretchen-Frage zwischen den beiden englischsprachigen Sängern von Marguerite und Faust im Truck dann auf Englisch, was nicht ohne Reiz ist, aber zum besseren Verständnis von Berlioz‘ Werk entbehrlich wäre. Der in Arkansas geborene US-amerikanische Tenor Charles Workman verfügt für die Titelpartie über eine kräftige und höhensichere Stimme, die nur fallweise etwas angestrengt klang. Er hat sich vor allem auf Mozart, Händel und das französische Repertoire spezialisiert und war am Theater an der Wien bereits in drei Händel-Produktionen (Semele 2010, Il trionfo del tempo e del disinganno 2013, Messiah 2014) zu hören bzw zu sehen. Darstellerisch vermag er alle Lebensstationen dieses hin- und hergerissenen und getriebenen Faust glaubwürdig zu verkörpern. Zu Beginn sitzt er am Rande der Autobahnbrücke in höchster Verzweiflung, bereit, sich hinab zu stürzen. Aber sein sehnlichster Wunsch nach Verjüngung wird ihm in dieser Inszenierung leider nicht zu Teil. Und hätte denn nicht ein verjüngter Faust besser zu der Marguerite der britischen Mezzosopranistin Jessica Eccleston gepasst?
Diese verfügt über eine lyrisch schwelgerische sinnliche Stimme, was sie besonders gut im Chancon gothique „Le roi de Thulé“ unter Beweis stellen konnte. Seit der Spielzeit 2017/18 ist sie festes Ensemblemitglied am Landestheater Linz. Michael Wagner glänzte mit seiner eindringlichen Bassstimme als wahrhaft dämonischer Méphistophélès. Während des Höllenritts sitzt er hinter dem Lenkrad des Pick-ups, während Faust dahinter auf der Ladefläche steht und der Zuschauer auf einer Leinwand die Wüstenlandschaften des Mittleren Westens der USA vorbeiziehen sieht. Dann dreht er das Autoradio auf und stimmt diabolisch lächelnd in den himmlischen Chor ein und liefert Faust in der Hölle ab, die sich unseren Augen als Leichenhalle eröffnet. Sein Leichnam wird mit einem Nummernschild am großen Zeh aufgebahrt und schließlich in einen lebenden Leichnam, ein seelenloses Wesen, transformiert. Er erhält einen schwarzen Mantel mit Melone als Referenz an René Magritte und ist nun optisch bestens ausgerüstet, um das Böse auf elegante Weise in der Welt zu verbreiten… Méphistophélès aber verlässt die Szene, denn hier gilt es ja nicht mehr, Faust zu verführen…
Dominik Nekel ergänzte mit seinem gut geführten Bass rollengerecht als Student Brander und gab vor der betrunkenen Studentenhorde sein Chancon „Certain rat, dans une cuisine etabli, comme un vrai frater…“ Martin Zeller hat den Chor und Extrachor des Landestheaters Linz gesanglich gut einstudiert. Was das Rezitieren von Goethe Versen betrifft, hätte man noch einige Proben einlegen müssen, um zu einem textlich verständlichen Ergebnis gelangen zu können. Der Chor wurde von Berlioz im Übrigen als gleichgewichtiger Protagonist konzipiert. Im Finale wurde der Chor dann noch vom aufgeweckt singenden Kinder- und Jugendchor des Landestheaters Linz stimmstark ergänzt. Auch hier gilt wieder: Mehr Proben für das Rezitieren des Goethe Textes wäre ein Gewinn gewesen. Allerdings nur für das Konzept des Regisseurs. Wirklich gebracht haben diese Ausflüge in die Prosa von Goethes Faust, ob in Deutsch oder in Englisch vorgetragen, dramaturgisch gesehen nichts. Martin Braun hatte das Bruckner Orchester Linz gut im Griff und beeindruckte besonders in den sinfonischen Passagen mit seiner äußerst sensiblen Umsetzung der Partitur. Immer wieder gelangen ihm Momente höchster musikalischer Anspannung und gewaltiger geradezu ekstatischer Spannungsbögen. Henning Streck sorgte noch für das passende Lichtdesign der einzelnen Szenen.
Fausts Verdammnis zu inszenieren ist zweifelsohne kein leichtes Unterfangen. Als ich diese Rezension verfasste, sah ich mir nebenbei noch die Produktion von Salzburg 1999 auf DVD an, um einen Vergleich zu haben, der zu Gunsten des Katalanischen Regieteams in diesem Falle ausfiel. Zu viele Fragen blieben in dieser intellektuell überfrachteten Inszenierung offen, zu vieles Beiwerk in Form der eingeflochtenen Prosatexte störte den natürlichen Handlungsablauf und zog das Werk daher unnötig in die Länge. Trotzdem: wenn man dieses Werk – wie der Verfasser dieser Zeilen – nicht so gut kennt, dann zahlt sich eine Begegnung in Linz auf jeden Fall aus!
Harald Lacina, 17.2.
Fotocredits: Reinhard Winkler