besuchte Vorstellung am 14.9.14 in der Tabakfabrik Linz (Prem. am 10.09.14)
Erschütternde Kriegsoper am Vorabend des 1. Weltkriegs
In den zwanziger Jahren des vorigen Jhd. zählte Walter Braunfels (1882-1954), neben Richard Strauss und Franz Schreker, zu den meistgespielten deutschen Opernkomponisten. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde es still um den als Sohn eines zum Protestantismus konvertierten Juden geborenen Komponisten. Nach dem zweiten Weltkrieg galt Braunfels‘ Stil bei den Vertretern der Avantgarde als veraltet. Erst seit den neunziger Jahren des vorigen Jhd. nimmt das Interesse an Braunfels‘ musikdramatischen Werken wieder zu. Von seinen acht vollendeten Opern erreichten zunächst „Die Vögel“ bei ihrer Wiederaufführung u.a. in Wien 2004, Cagliari 2007 und Los Angeles 2009 eine größere internationale Beachtung.
Nun ist die Zeit reif geworden für den „Ulenspiegel“, einer Oper in drei Aufzügen, op. 23, die vierte Oper von Walter Braunfels, uraufgeführt am 4. November 1913 am Königlichen Hoftheater Stuttgart unter Max von Schillings. Der Komponist selbst verfasste das Libretto nach dem französischen Roman „La légende et les aventures héroiques joyeuses et glorieuses d’Ulenspiegel et de Lamme Goedzak au pays des Flandres et ailleurs“ (1867), in Deutsch „Die Mär von Eulenspiegel und Lamme Goedzak und ihren heroischen, ergötzlichen und rühmlichen Abenteuern in Flandern und anderen Ländern“ (übersetzt von Georg C. Lehmann) des belgischen Schriftstellers Charles Théodore Henri De Coster (1827-1879).
Obwohl dem Ulenspiegel bei seiner Uraufführung in Stuttgart 1913 ein Achtungserfolg beschieden war, wollte sich der nach dem ersten Weltkrieg zum Katholizismus konvertierte Komponist mit dem betont antikatholischen Stoff des Ulenspiegels nicht mehr auseinander setzen. Und so blieb es bei dieser einzigen Aufführung der Oper in Stuttgart. Auf Betreiben der Enkelin des Komponisten, Susanne Bruse, wurde das Notenmaterial des „Ulenspiegels“ dem Dämmerschlaf im Archiv der Stuttgarter Oper entrissen und das Werk 2011 mit großem Erfolg in Gera wieder szenisch aufgeführt.
Zum Inhalt: Der exzentrische protestantische Narr Till Ulenspiegel ist ein Außenseiter, der sich über die Ablasspriester lustig macht und ihnen unerschrocken entgegen tritt und erst als er die Nachricht vom Tod seines Vaters erhält, mit einem Male aus seinem Traumleben erwacht und nun zum erbitterten Anführer der Geusen in Vlissingen gegen die katholischen Peiniger wird. Nele, seine Geliebte, wird getötet, als sie sich schützend vor ihn stellt. Doch Ulenspiegel ist bereits derart traumatisiert von den Ereignissen, dass er sein Leben nur mehr der Rache und dem Kampf gegen die Spanier weiht.
Der Verein EntArteOpera führte nun den „Ulenspiegel“ in Zusammenarbeit mit dem internationalen Brucknerfest in einer Bearbeitung von Werner Steinmetz für großes Kammerorchester in der ehemaligen Tabakfabrik Linz, einem historisch geschichtsträchtigen Ort, zum ersten Mal szenisch in Österreich auf. Martin Sieghart leitete das Israel Chamber Orchestra mit Verve und Braunfels ausdrucksstarke Musiksprache mit ihren ekstatischen Ausbrüchen an der Grenze zur Atonalität entfaltete ungeheure Klangcluster in der riesigen Halle des Veranstaltungsortes. Unterstützt wurde er dabei noch von Franz Jochum, der den Chor EntArteOpera zu Höchstleistungen anspornte. Seine musikalischen Wurzeln sah Braunfels übrigens in Hector Berlioz, Richard Wagner, Anton Bruckner und Hans Pfitzner.
Regisseur Roland Schwab möchte mit seiner beklemmenden Interpretation des Ulenspiegels aufzeigen, dass Krieg jeden Menschen verändert und zu einem Zerrbild seiner Selbst werden lässt. Seine stringente Personenführung arbeitet auch jede Figur des Chores individuell heraus, sodass dieser nicht als Gesamtheit, sondern als Summe von Einzeldarstellern in der Aufführung in Erscheinung trat. Susanne Thomasberger verortete das Geschehen in einer fiktiven Gegenwart mit zahlreichen Reverenzen (Autowracks, Reifen, etc) an den australischen Film „Mad Max“ von 1980. Die spanischen Unterdrücker tragen schwarze Lederkleidung, die ihre Gewaltbereitschaft und Grausamkeit noch optisch unterstreicht, während die Niederländer zum überwiegenden Teil mehr volkstümlich gekleidet auftreten.
Marc Horus lieferte einen darstellerisch grandiosen Titelhelden Till Ulenspiegel, der überzeugend den Wandel vom gewitzten Narren zur ausdrucksleeren Kampfmarionette vollzog und dabei seinen markigen Tenor schön zur Entfaltung brachte, wenngleich er in der Höhe manchmal doch Probleme hören ließ. Aber wen wundert das, bei einer so mörderischen Partie mit Tristan Ausmaßen?
Hans Peter Scheidegger gefiel als besorgter und später gefolterter alter Kohlenbrenner und Vater Klas mit markigem Bass. Als Findelkind Nele beeindruckte Christa Ratzenböck mit ihrem gewaltigen Sopran, mit dem sie immer wieder gesangliche Akzente setzte. Als Profoss des Herzog Alba agierte Joachim Goltz so richtig abgrundtief böse, wozu sein Bassbariton ein Übriges beitrug. Andreas Jankowitsch ergänzte noch rollengerecht als Schuster und als alter Holländer Jost mit polterndem Bass.
Die übrigen Mitwirkenden hatten gleich mehrere Rollen zu gestalten. Zu sehen und hören waren Tomas Kovacic, Martin Summer, Saeyoung Park, Dimitrij Leonov, Neven Crnic, Mario Lerchenberger und László Kiss als Ablasspriester, Bäcker, Fischer, Schneider, Schreiber, Schreiner, Schuster Seifensieder, Soldat, Zimmermann, als Schmied von Damme, Bürgermeister von Vlissingen und spanischer Arkebusier.
Das Programmheft zählt noch die solistisch aufgetretenen Mitglieder des Chores und die mitwirkenden sieben Statisten namentlich auf.
Der enorme Applaus am Ende der rund 2,5 stündigen Oper drückte wohl den tief empfundenen Dank des Publikums aus, ein wichtiges Werk des 20. Jhd, in einer äußerst gelungenen szenischen Aufführung miterlebt zu haben. Ich könnte mir eine Übernahme dieser Produktion an ein Haus wie die Wiener Volksoper durchaus vorstellen, die damit an die Erfolge der Vögel, König Kandaules und Irrelohe anknüpfen könnte.
Harald Lacina, 15.9.2014
Fotos: Julia Fuchs