Luzern: „Peter Grimes“, Benjamin Britten

Mit einer zutiefst bewegenden, aufwühlenden und geradezu erschütternden Aufführung von Benjamin Brittens meisterhaftem Musikdrama PETER GRIMES überwältigte das Luzerner Theater gestern Abend sein Premierenpublikum.

Benjamin Brittens packende Oper hat seit ihrer Uraufführung nichts an gesellschaftspolitischer Brisanz eingebüßt. Seine Schilderung der Mechanismen in einer Dorfgemeinschaft zeigt parabelhaft im Kleinen wie die Menschen im Großen funktionieren und agieren, wie sie kleinkariert denken, wie leicht sie Schuld zuweisen und Sündenböcke benennen, um der Selbstreflexion auszuweichen. Der Regisseur der neuen Produktion in Luzern, Wolfgang Nägele, hat diese Spannungsfelder zwischen Individuum und Gemeinschaft mit herausragender Genauigkeit und einer optischen Sprache (Bühnenbild: Valentin Köhler, Kostüme: Marie-Luise Otto), die reich an Metaphern ist, erarbeitet.

© Emanuel Ammon

Im Prolog trennt eine Hafenmauer aus glitschig schimmernden, grob gehauenen, schwarzen Steinen Grimes von seinen Anklägern. Einzig eine Schwimmbadleiter führt zu Grimes hinunter. Ellen, die mütterliche Freundin von Grimes, ist zuerst die einzige, welche zu ihm hinunterklettert. Für die Schilderung der Monotonie des dörflichen Alltags zeigen der Regisseur, der Bühnenbildner Valentin Köhler und die Kostümbildnerin Marie-Luise Otto die Menschen bei der eintönigen Arbeit in einer Fischverarbeitungsfabrik, beim abendlichen Vergnügen in der Kneipe, die hier ein Schiffscontainer ist, der auch als “Verrichtungsbox” für Prostituierte und Freier dient.  Das Bild der Fischfabrik sehen wir dann auch am Ende der Oper wieder: Die dramatischen Ereignisse haben keine Spuren hinterlassen, es werden keine Gedanken an das Vergangene verschwendet, keine Lehren gezogen, die gewohnte Monotonie setzt sich unverändert fort – und das bis in die heutige Zeit, wo wir alle immer noch sehr schnell bei der Benennung von Sündenböcken sind, wenn wir durch ungewohntes Verhalten oder neu gedachte Visionen aus unserem gewohnten Trott gerissen werden.

Wolfgang Nägele, Valentin Köhler und die Kostümbildnerin Marie-Luise Otto bringen uns die Menschen dieses Dorfes mit bezwingender Unmittelbarkeit näher, die Personenführung ist exzellent, fantastisch differenziert und ganz realistisch und naturalistisch. Die Metaphern sind in der Gestaltung der Bühne angelegt, etwa in dem an Turners Kunst angelehnten Bild vom Schiff, das dem aufgewühlten Meer trotzt und vor dem Grimes seinen Traum von der Bezwingung der Natur träumt, vom Reichtum und vom Glück mit Ellen und eigenen Kindern. Doch wenn sich der Lynchmob der Dorfbewohner nähert, reisst er die Leinwand herunter, legt sich das Tuch wie eine Robe um die Schultern und schreitet majestätisch in den Suizid. Das Inszenierungsteam hat weitgehend darauf verzichtet, die vier berühmten Sea Interludes realistisch zu illustrieren, was einer Verdoppelung gleichkäme, denn die musikalische Sprache Brittens sagt eigentlich alles. Deshalb sehen wir auf der Bühne ebenfalls dezente Metaphern, etwa einen Trauerzug mit antiken Schiffsmodellen und weißen Kerzen für die Opfer der See. Brittens eindringliche Schilderungen der Abgründe werden vom Luzerner Sinfonieorchester unter der Leitung von Jonathan Bloxham mit aufwühlender, vorwärtsdrängender, aufpeitschender Kraft und subtiler Differenzierung in den kammermusikalischen Verästelungen interpretiert. Die Orchesterbesetzung ist in dem kleinen Luzerner Haus etwas reduziert, was jedoch keine Einbußen der klanglichen Intensität zur Folge hat.

© Emanuel Ammon

Angeführt von Brett Sprague, der mit seinem sensibel geführten, biegsamen Tenor all die komplexen Charakterzüge und Träume von Peter Grimes offenzulegen vermag, begeistert ein hochkarätiges Ensemble mit subtilen Porträtierungen der Menschen in dieser kleinräumigen Dorfgemeinschaft: Mit wunderbar leuchtender Sopranstimme verkörpert Eyrún Unnasdóttir die mütterlichen Gefühle der Ellen Orford, mit warmstimmiger Autorität gestaltete Vladyslav Tlushch den Captain Balstrode, mit der notwendigen Vulgarität und enormen stimmlichen Ressourcen überzeugt Judith Schmid als Auntie. Ihre von ihr zur Prostitution gezwungenen Nichten (im – die pädophilen Neigungen manch eines Dorfbewohners befriedigenden – Outfit aus überlangen Kniestrümpfen, kurzem Röckchen und auf Rollschuhen) werden von Tania Lorenzo Castro und Elvira Margarian mit anrührendem Ekel und gekonnter Verdorbenheit verkörpert. Robert Maszl singt eindringlich den widerlichen, hetzerischen, methodistischen Eiferer Bob Boles, Rueben Mbonambi zeigt mit großem Können die widersprüchlichen Seiten des Rechtsanwalts und Bürgermeisters Swallow, Valentina Stadler porträtiert mit irrer Bühnenpräsenz die drogensüchtige und bigotte Mrs. Sedley, Luca Bernard ist der realitätsfremde Pastor Horace Adams, der geradezu eskapistische Züge an den Tag legt. Der Bariton Michael Temporal Darell gestaltet mit immenser Darstellungskraft den durchtriebenen Apotheker Ned Keene und Marc-Olivier Oetterli ist fantastisch als mürrischer Hobson. Arush Kathri füllt die Rolle des Lehrjungen mit ergreifender, tragischer Verschlossenheit (er kann sich nicht mitteilen, konzentriert sich einzig auf sein Jo-Jo, das dann von Grimes in einem Wutanfall zertreten wird) und der Offenbarung seiner zutiefst gestörten und verletzten kindlichen Seele aus.

Der Opern- und der Extrachor Luzerner Theater (Einstudierung: Manuel Bethe) macht die wichtigen chorischen Passagen zum klangstarken und unter die Haut gehenden Ereignis.

Unbedingt hingehen, das Werk und die Produktion in Luzern sind absolut sehens – und hörenswert!

Kaspar Sannemann 11. September 2025


Peter Grimes
Benjamin Britten
Luzerner Theater

Premiere 6. September 2025

Regie: Wolfgang Nägele
Dirigat: Jonathan Bloxham 
Luzerner Sinfonieorchester