Die Ukraine befindet sich im Kriegszustand. Da ist es nicht selbstverständlich, dass das kulturelle Angebot in vielen Städten weiterläuft. Angesichts dieser schwierigen Situation sind vielleicht Auslandsgastspiele von noch grösserer Bedeutung als üblich. Das Ballett der Nationaloper von Odessa absolviert gerade eine zweiwöchige Residenz in Athen. Eines der mitgebrachten Werke ist einer der Klassiker des Ballettrepertoires: Adolphe Adams „Giselle“. Die ukrainische Ballettcompagnie verfügt laut Webseite über 74 Tänzerinnen und Tänzer. Das ist eine stattliche D Grösse, welche die Entfaltung klassischer Tanzkunst mühelos erlaubt. Das Athener Publikum strömt denn auch in Scharen zu den Aufführungen.
„Giselle“ ist das klassisch-romantische Ballett schlechthin. Die Produktion aus Odessa präsentiert sich so, wie man es erwartet. Die Choreografie weist, wenn man es so sagen will, zwei Schichten auf. Sie ist der Ursprungsgestaltung von Jean Coralli und Jules Perrot verpflichtet, aber ebenso den späteren Weiterentwicklungen von Marius Petipa und Leonid Lavrovsky. Es ist im ersten Akt interessant zu beobachten, welch grosse Rolle das pantomimische Element gegenüber dem reinen Tanz einnimmt. Gesten und Blicke treiben da den Handlungsverlauf voran. Im zweiten Akt, wo die Naturwesen, die Willis, die Szene einnehmen, entfaltet sich dann das klassische Bewegungsrepertoire des Tanzes in beeindruckender Fülle. Dann hat das weibliche Corps de Ballet seinen grossen Auftritt und besticht mit hohem technischen Können. Die kollektiven Bewegungsfolgen gleichen formalen Ausdrucksgebärden. Bühnenbild und Kostüme von Natalia Bevzenko-Zinkina geben sich ganz traditionell und betonen das Märchenhafte des Geschehens. Die Szene ist schön anzusehen. Die Musik kommt vom Band und am Orchesterspiel ist kaum etwas auszusetzen. Da die Lautsprecheranlage in der Alexandra Trianti Hall offensichtlich höchsten Ansprüchen nicht genügt, verliert die Aufführung allerdings deutlich an Atmosphäre, wirkt wie hinter Glas gebannt. Das ist so bedauerlich wie vermeidbar.
Das tänzerische Niveau der Gäste ist hoch. Das Corps de Ballet agiert präsise und elegant. Das Solistenquartett zeigt bemerkenswerte Leistungen in Technik und Ausdruck: Natalia Ivasenko als Giselle, Andriy Pisarev als Albrecht, Anastasia Korno als Myrtha und Stanislav Katsi als Hilarion geben den Figuren eindrücklich Form. Die beiden Damen bestechen durch Anmut, Pisarev gibt einen eleganten Albrecht, Katsi einen kraftvoll-energischen Hilarion. Pisarev erweist sich zudem als eindringlicher Gestalter kleiner, technisch brilliant vorgeführter Bewegungen. Die Szenen des Balletts fügen sich leichterhand zusammen und der zweite Akt, der die Welt der Willis zeigt, demonstriert Möglichkeiten und Zauber des klassischen Balletts. Das Ganze mag ein wenig museal anmuten, kommt aber höchst bildstark und sprechend auf die Bühne.
Das Publikum in der fast ausverkauften Alexandra Trianti Hall des Megarons spendet lautstarken Beifall. Man schätzt das klassische Ballett in der griechischen Hauptstadt.
Ingo Starz, 23. Dezember 2023
Besonderer Dank an unseren Kooperationspatner MERKER-online (Wien)
Giselle
Ballett der Nationaloper Odessa
The Athens Concert Hall:
20. Dezember 2023
Ballett der Nationaloper Odessa