Aufführung am 26. Mai 2021
Ideale Liedpartnerschaft
Beim letzten Liederabend von Camilla Nylund mit Helmut Deutsch in Österreich – an der Wiener Staatsoper am 15.Juni 2020 – waren coronabedingt nur 100 Personen als Publikum zugelassen. Nun lässt endlich die Pandemie nach – so konnten im Grazer Stephaniensaal rund 600 Liedbegeisterte dabei sein und Camilla Nylund sprach aus, wie bewegt sie sei, erstmals nach 8 Monaten wieder vor Live-Publikum singen zu dürfen. Die Eckpunkte des Grazer Konzertes waren zwei Liedgruppen, die vor einem Jahr auch auf dem Programm an der Wiener Staatsoper standen: Jean Sibelius und Richard Strauss.
Die Zeitgenossen Sibelius und Strauss haben dem Klavierlied einen beträchlichen Teil ihrer Schaffenskraft gewidmet: Sibelius schrieb über 90, Strauss über 150 Lieder. Doch wie unterschiedlich ist ihr Zugang! Bei Jean Sibelius dominiert stets die naive Kraft der melodischen Erfindung, die Singstimme hat die Führung, der Klaviersatz ist schlicht begleitend. Richard Strauss ist der Schöpfer des theatralisch-brillanten Podiumsliedes mit eigenständigem und virtuosem Klaviersatz. In diesem Sinne war das Programm klug aufgebaut – zu Beginn sieben Lieder von Jean Sibelius, alle auf schwedische Texte, alle Liebesempfindungen und Naturbilder verbindend. Camilla Nylund spannte große Stimmbögen, stimmlich in allen Lagen und dynamischen Facetten bewundernswert ausgewogen, gleichzeitig fein nuanciert, sodass das Publikum trotz fehlender Sprachkenntnisse folgen konnte. Helmut Deutsch war hier der feinfühlig mitgestaltende Partner am Klavier. Schön, dass man wieder einmal einige der in unseren Breiten nur selten aufgeführten Sibelius-Lieder miterleben konnte.
Die abschließenden vier Strauss-Meisterstücke op. 27 waren für mich der Höhepunkt des Abends: Zunächst die dionysisch-losbrechende Heimliche Aufforderung, dann das monodisch-feierliche Ruhe, meine Seele, gefolgt von der wundervollen Glücksvision Morgen und zum Schluss die stürmisch-lebensbejahende, fast opernhafte Cäcilie. Camilla Nylund, derzeit wohl eine der führenden Strauss-Interpretinnen auf der internationalen Opernbühne, und Helmut Deutsch, der erfahrene Meisterbegleiter, boten mit diesen vier Strauss-Liedern eine unvergleichliche Interpretation – beide in absoluter Bestform! Nylund gestaltete mit souveräner Textausdeutung, bewies neuerlich ihre absolut ausgewogene Stimmführung mit idealem Strauss-Timbre und krönte den Abend mit einem strahlenden hohen H in der Cäcilie. Und Helmut Deutsch brillierte mit einer idealen Gestaltung des der Stimme gleichrangigen Klavierparts. Zwei Beispiele: in Ruhe meine Seele gelang es ihm, mit den gehaltenen langen Akkorden bis zum Ende eine spannungsvolle Intensität zu entwickeln und diese in den letzten beiden Takten im pp mit der Dreiklangszerlegung aufzulösen. Ebenso meisterhaft das Vorspiel zu Morgen und vor allem die Generalpause vor dem fünftaktigen Nachspiel.
Bei den Strauss-Lieder erlebte man dankbar das, was ich im Titel dieses Beitrag als ein ideale Liedpartnerschaft genannt hatte und was man nur im Live-Musizieren mit Publikum erleben kann – wie wunderbar, dass dies nach fast neunmonatiger Pause wieder möglich ist, wenn auch beeinträchtigt durch den Zwang, als Publikum den ganzen Abend Maske zu tragen!
Zwischen den Sibelius- und Straussblöcken gab es zunächst die bekannten Zigeunermelodien von Antonín Dvořák. Da gingen die rhythmischen Impulse primär vom Pianisten aus. Camilla Nylund sang aus Noten – wie immer klanglich wunderschön, wenn auch nicht mit der von ihr gewohnten Textpräzision und -ausdeutung. In Erinnerung bleibt vor allem die ruhige Schönheit von Rings ist der Wald so stumm und still. Dann folgten vier Lieder von Gustav Mahler. Camilla Nylund hatte in einem Zeitungsinterview aus Anlass des Grazer Konzertes gesagt: Lieder von Mahler habe ich bisher kaum gesungen, und sie waren eine große Entdeckung für mich, und sie passen auch gut zu meiner Stimme. Mahlers Lieder spiegeln für mich die österreichische Seele wider. Die Mahler-Lieder gelangen in der Partnerschaft Sopran/Klavier ganz wunderbar und überzeugend.
Nochmals sei erwähnt, dass für mich die den Abend abschliessenden Strauss-Lieder der Höhepunkt eines maßstabsetzenden Liederabends waren Es kam mir ein Zitat in den Sinn, das an diesem Abend nicht nur für Wort und Musik, sondern auch für Sängerin und Pianist gelten mag:
„Vergebliches Müh’n, die beiden zu trennen. In eins verschmolzen sind Worte und Töne – zu einem Neuen verbunden. Geheimnis der Stunde. Eine Kunst durch die andere erlöst!“ (Richard Strauss/Clemens Krauss Capriccio: Die Gräfin in ihrem Schlussmonolog). Camilla Nylund hatte gerade erst in Dresden unter Thielemann die Gräfin gesungen – die Aufzeichnung der vollständigen Aufführung ging am 22.5. online und ist sehr zu empfehlen!
Zwei Zugaben: Gustav Mahlers Wer hat das Liedlein erdacht? Und etwas überraschend Franz Lehars Warum hast du mich wachgeküßt?
Am Ende dieses großen Liederabends wurde Helmut Deutsch die Urkunde über die Ehrenmitgliedschaft des Grazer Musikvereins überreicht – vor 50 Jahren ist er erstmals in Graz als Cembalist aufgetreten und 1972 begleitete er seinen ersten Liederabend im Graz Stephaniensaal, dem seither ungezählte folgten. Helmut Deutsch wurde vom Publikum begeistert gefeiert – alle freuen sich auf seine nächsten Auftritte in Graz: mit Krassimira Stoyanova am 20.1.2022 und mit Piotr Beczała am 27.6.2022 – das vollständige Jahresprogramm 2021/2022 findet sich hier
Hermann Becke, 27.5.2021
Hinweise:
– Camilla Nylund im Hauskonzert bei André Heller im November 2020 mit Videoausschnitt – ich erinnere mich, dass dieses im TV übertragene Hauskonzert auf uneingeschränkte Zustimmung, ja Begeisterung des Publikums gestoßen war.
– Vorschau auf eine weitere Zusammenarbeit Camilla Nylund/André Heller: American Songbook . Dazu ein Zeitungsvorbericht und ein ganz aktuelles 3-Minuten-Video aus der Ton-Probenarbeit (ab 25.5. nur für 6 Tage verfügbar!)
– Video-Interview Helmut Deutsch und der Musikverein Graz