Besuchte Vorstellung: 29. Januar 2014 (Premiere: 26. Januar 2014)
Überzeugende Produktion eines rätselhaften Werks
Student Arkenholz hat das zweite Gesicht: Er sieht die Toten, weiß es aber nicht. Er spricht mit einem verstorbenen Milchmädchen, das für einen ihn beobachtenden Alten nicht sichtbar ist. Der Alte spricht ihn an und stellt sich als „Direktor Hummel“ vor. Er will den Studenten in ein geheimnisvolles Haus einführen und mit einem dort wohnenden jungen Fräulein verkuppeln. Der Student willigt ein. Im Haus finden sie eine skurrile Gesellschaft vor. Als Hausherr fungiert ein „Oberst“, dessen Frau hat sich seit Jahrzehnten in einen Wandschrank verkrochen, wird von allen bloß „die Mumie“ genannt und spricht wie ein Papagei. Zusammen mit einem alten Fräulein und einem Baron versammeln sie sich seit Jahren zu einem immergleichen Ritual, dem „Gespenstersouper“. Dieses Mal aber kommt es bei dem Ritual zur Abrechnung zwischen Direktor, Oberst und Mumie. Der Oberst sei kein Oberst und auch nicht von adeliger Abkunft, verkündet Hummel. Doch auch der Direktor spielt nicht mit offenen Karten. Die Mumie enthüllt, daß er und nicht der Oberst der Vater ihrer Tochter, des jungen Fräuleins, ist. Zudem habe er das Milchmädchen ermordet, um andere Verbrechen zu vertuschen. Sie verurteilt Hummel zum Suizid, den dieser im Wandschrank vollzieht. Derweil hat der Student sich in das „Hyazinthenzimmer“ begeben, in dem das junge Fräulein sich aufhält. Es kommt zur schüchternen Annäherung. Die Köchin des Hauses erscheint. Das Fräulein reagiert mit verängstigter Verzweiflung. Die Köchin sauge „die Lebenskraft“ aus den Bewohnern, doch niemand vermöge es, sie des Hauses zu verweisen. Dann stirbt das Fräulein, plötzlich und ohne erkennbaren Grund. Der Student bleibt allein zurück.
Student Arkenholz (Alexander Mayr) vor dem Unglückshaus]
Sehr verrätselt gibt sich dieses Spätwerk von August Strindberg. Ein wenig Geistergeschichte, ein wenig Gesellschaftssatire, viel dunkler Symbolismus, keine klaren Deutungsebenen. Regisseur Walter Sutcliffe versucht sich in der aktuellen Inszenierung im Bockenheimer Depot daher vernünftiger Weise an keiner Deutung und beschränkt sich darauf, das verwickelte Geschehen klar und flüssig auf der Bühne zu präsentieren. Dazu hat Kaspar Glarner ihm eine schlichte Rampe gebaut. Zwei Zuschauertribünen erheben sich zu beiden Seiten. Auf der ansonsten leeren Rampe bewegt sich im ersten Bild das mannshohe Modell des mysteriösen Hauses, tanzt regelrecht über die Bühne, dreht sich, präsentiert sich, lockt. Im Zwischenspiel zum zweiten Bild teilt das Modell sich in zwei Teile, die sich zur jeweiligen Seite von der Rampe entfernen. Die Statue einer jungen Frau fährt aus dem Bühnenboden empor. Es ist ein Bildnis der Mumie in jungen Jahren. Zum Souper fahren Sessel, ein Sofa und ein Tisch wie von Geisterhand herbei, drehen sich tänzeln, umrunden die Bühne, bilden ein Karussell, auf das die Protagonisten aufsteigen, bis die Endposition der Möbel für das Ritual erreicht ist. Das ist raffiniert ausgedacht und technisch perfekt umgesetzt. Das dritte Bild schließlich präsentiert das Hyazinthenzimmer als kubisches Gerüst, das ebenfalls auf der Rampe frei beweglich ist und zum Ende in immer schnelleren Drehungen um die eigene Achse seinen Charakter als Käfig offenbart. Zum Sterben des Fräuleins breitet sich eine Blutlache aus, die beide Darsteller besudelt. Ob das Fräulein blutet oder das Zimmer, wird nicht klar, und diese Uneindeutigkeit ist wohl auch beabsichtigt.
Arkenholz besucht das „junge Fräulein“ (Barbara Zechmeister) im Hyazinthenzimmer]
Im Programmheft gibt der Komponist Auskunft über seine Herangehensweise: „Man sollte versuchen, sich rasch von der textlichen Vorlage zu entfernen, damit die Musik ihr Eigenleben entfalten kann, also den Text in sich selbst zu Musik werden lassen, nicht die Musik am Text entlang entwickeln. Die Musik hat dann, wenn sie für ein Stück wachgeworden ist, ihr selbständiges Leben; der Text wird sozusagen in sie hineingestellt.“ Man kann sagen, daß Aribert Reimann diesem Anspruch in seiner Vertonung der „Gespenstersonate“ über weite Strecken gerecht geworden ist. Und das ist nicht unproblematisch. Die Aufmerksamkeit des Zuschauers ist so stark auf Text und Bühnengeschehen konzentriert, daß eine vollständig bewußte Wahrnehmung des höchst komplexen Klaggeschehens im Orchestergraben kaum möglich ist. Da die Musik nichts Illustratives hat, keine Assoziationen zu Gewohntem erlaubt, keine Anleihen bei tradierten Chiffren nimmt, liefern die Orchestermusiker alles andere als einen stützenden Soundtrack. Vielmehr wird eine abstrakte Klangfolie mit einem Eigenleben ausgebreitet, vor deren Hintergrund das Bühnengeschehen abläuft. Soweit sich dies ohne Blick in die Partitur sagen läßt, setzt das Kammerensemble mit seinen lediglich 18 Spielern unter der Leitung von Karsten Januschke dies alles mit Präzision und Plastizität um.
Grotesker Auftritt: Die Mumie (Anja Silja) erscheint, beobachtet von den Dienern Bengtsson (Björn Bürger, links) und Johansson (Hans-Jürgen Schöpflin)]
Die Sänger sind als Darsteller stark gefordert. Ohne Ausnahme wissen sie in ihren Rollen zu überzeugen. Allen voran nutzt Dietrich Volle die Gelegenheit, sein schauspielerisches Format als Direktor Hummel zu präsentieren. Ein Kabinettstück liefert Anja Silja als Mumie ab: wunderbar grotesk als gurrende Papageienimitatorin, autoritär und mit kalter Unerbittlichkeit in ihrer Abrechnung mit dem Ex-Geliebten Hummel. Alexander Mayr gibt den Studenten Arkenholz mit überzeugender Naivität und Frische. Schmierig und devot charakterisiert Hans-Jürgen Schöpflin Hummels Diener Johansson, aalglatt und gefährlich Björn Bürger des Obersten Diener Bengtsson. Brian Galliford darf den Oberst als aufgeblasene Witzfigur zeichnen, aus der schnell die Luft herausgelassen wird. Barbara Zechmeister läßt das junge Fräulein nach anfänglichem Lyrik-Liebes-Überschwang im Hyazinthenzimmer anrührend zugrunde gehen.
Starker Darsteller: Dietrich Volle als „Direktor Hummel“]
Die Gesangslinien werden oft durch große Intervallsprünge zerklüftet. Das stellt insbesondere Alexander Mayr vor die große Herausforderung, immer wieder unvermittelt von der Bruststimme für einen einzigen Ton ins Falsett zu wechseln. Er bewältigt das mit virtuos zu nennender Selbstverständlichkeit. Die Abwesenheit gewohnter melodischer Zusammenhänge in den Gesangslinien lenkt das Ohr ganz auf das jeweilige Stimmtimbre. Hier bietet die Oper Frankfurt eine stimmige Besetzung bis in die kleinste Nebenrolle. Exemplarisch sei Stine Marie Fischer als Köchin genannt, die in ihrem kurzen Auftritt im dritten Bild ein gesangliches Glanzlicht mit satt-bedrohlicher Tiefe und autoritärer Höhe setzt.
Diese Produktion der „Gespenstersonate“ ist nicht bloß für Freunde zeitgenössischen Musiktheaters genießbar. Sie schlägt mit eminenten musikalischen und darstellerischen Qualitäten derart in den Bann, daß man bald die Elaboriertheit der Komposition als selbstverständlich hinnimmt und sich nach 90 Minuten Aufführungsdauer wundert, wie schnell doch die Zeit vergangen ist.
Michael Demel, 30. Januar 2014 Copyright der Bilder: Wolfgang Runkel